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Energie sehen: Meditation mit offenen Augen


[Bild: glaskoerpertruebung2.jpg]

Viele Menschen kennen es: Beim Blick in den blauen Himmel zeigen sich bewegliche, transparente Punkte und Fäden, die in unserem Blickfeld schwimmen und beim Blick darauf normalerweise wegdriften. Nur wenige achten bewusst auf diese Phänomene, und einige wenige stören sich sogar an ihnen. Was sehen wir da?

Mouches Volantes

Mouches Volantes EnergieIn der Augenheilkunde wird dieses Phänomen irrtümlicherweise für eine Art von Glaskörpertrübung gehalten und zusammen mit anderen realen Glaskörpertrübungen als „Mouches volantes" (frz. für fliegende Mücken) bezeichnet. Steckt vielleicht doch viel mehr dahinter? Sehen wir hier gar die Energie des Universums? In jedem Fall eignen sich diese Phänomene vortrefflich als Meditationsobjekt.

In den 1990er Jahren machte ich im Schweizer Emmental die Bekanntschaft mit einem Einsiedler namens Nestor, der sich selbst als Seher bezeichnet. In der aussergewöhnlichen Weltdeutung und Lebensweise von Nestor spielen die Mouches volantes eine zentrale Rolle.

Für ihn ist die Wahrnehmung dieser Punkte und Fäden das Resultat der bisherigen Bewusstseinsentwicklung eines Menschen. Im Laufe von weiteren Fortschritten in diesem Prozess, herbeigeführt durch eine ethische Lebenshaltung, konsequente Leibes- und Atemübungen, sowie erweiterte Bewusstseinszustände, verändert sich unsere Wahrnehmung der Mouches volantes: Stören sie uns zu Beginn eher als trübe oder transparente, ablenkende Punkte und Fäden, sehen wir sie später als grosse Kugeln und Fäden, auf die wir unsere Konzentration richten und sie damit zum Leuchten bringen. Nestor praktiziert das Sehen der Mouches volantes als eine Meditation mit offenen Augen. Für ihn geht es darum, die "Quelle" in dieser Struktur zu finden, d.h. die Kugel, welche unseren Durchgang in die jenseitige Welt darstellt.

Sternchen

Chi Energie sehenEin entoptisches Phänomen, das häufig mit den Mouches volantes verwechselt wird, sind die „Sternchen" (blue field entoptic phenomenon). Es handelt sich um hell leuchtende Kügelchen, die sich in gewundenen Bahnen bewegen. Sternchen sind gut wahrnehmbar, wenn wir ohne Fokussierung in den freien Himmel blicken. In körperlichen Extremzuständen können sie sehr deutlich und leuchtend erscheinen. In der Augenheilkunde werden die Sternchen als weisse Blutkörperchen (Leukozyten) erklärt, die sich in den Netzhautgefässen des Auges bewegen.

Eine Verknüpfung von Sternchen und ganzheitlich-spirituellen Erklärungen treffen wir im Bereich der Esoterik relativ häufig an: Meistens wird argumentiert, die Sternchen seien die visuell sichtbare Lebensenergie oder eine Form davon. Dabei wird häufig auf aussereuropäische Konzepte von Lebensenergie wie prana, chi oder ki zurückgegriffen. Doch eine tiefgründigere Theorie, die das Phänomen erklären könnte, ist schwer zu finden.

Eine Ausnahme bildet Wilhelm Reichs umstrittene Orgon-Theorie. In den 1930er und 1940er Jahren führte Dr. Wilhelm Reich (1897-1957) eine Reihe von biophysikalischen Experimenten durch, die seiner Ansicht nach zeigten, dass organisches Material (auch der menschliche Körper) durch eine Energie „erregt" wurde. Diese Energie konnte er visuell, thermisch und elektromikroskopisch nachweisen, und zwar im Sonnenlicht, im Erdboden, in der Atmosphäre und in lebenden Organismen. Er nannte diese Energie „Orgon" und setzte sie therapeutisch ein.

Von eher spirituell orientierten Anhängern der Orgontheorie wird die Konzentration auf den visuellen Ausdruck des Orgon empfohlen: Nach dieser Ansicht widerspricht die Wahrnehmung der energetischen Sternchen diametral der Wahrnehmung der physischen, materiellen Objekte. Und da wir gewohnt sind, auf die physische Welt zu blicken, bedarf es grosser Konzentration um diese Sternchen für eine längere Zeit ohne Unterbruch zu sehen. Um dies zu erreichen, müsse der innere Dialog, das Ego, zur Ruhe gebracht werden. Nach dieser Beschreibung kann die Konzentration auf die Sternchen daher wie die Konzentration auf Mouches volantes als Meditation mit offenen Augen aufgefasst werden.

[Bild: lichtkugel.png]

Die Phasen der Meditation mit offenen Augen

Wer diese Punkte und Fäden sehen kann, hat ein erstklassiges Meditationsobjekt zur Hand: Sie bilden bei jedem von uns ein individuelles Muster und sind somit ein unverwechselbarer Ausdruck unserer Selbst, so wie ein Daumenabdruck. Wir brauchen sie nicht mit uns herumzutragen und können trotzdem über sie meditieren, wann und wo wir wollen - ein kraftvoller Augenaufschlag genügt um sie in unser Blickfeld zu holen. Die Meditation über unsere Punkte und Fäden ist zudem eine Meditation mit offenen Augen, die als solche den Vorzug hat, uns wach zu halten und uns mit der Energie des Tageslichtes zu versorgen.

Die erste der vier Stufen des Meditationsprozesses nach Patanjali ist das Zurückziehen der Sinne. Dies bedeutet, dass wir die Objekte des inneren Sinnes, die Punkte und Fäden, in unser Blickfeld holen und bewusst auf sie schauen. Dabei passiert es, dass wir unsere fünf Sinne von den materiellen Sinnesobjekten zurückziehen und die Energie, die sie normalerweise für ihr Funktionieren brauchen, in den inneren Sinn leiten. In dieser ersten Stufe kundschaften wir unsere Punkte und Fäden aus, lernen ihre Formen, Konstellationen und Bewegungen kennen, sehen, dass es Punkte und Fäden im linken wie im rechten Bewusstsein gibt, und dass wir uns immer nur auf eine Seite konzentrieren können.

Dabei stellen wir fest, dass es nicht einfach ist, diese Punkte und Fäden zu betrachten, denn sie driften dauernd weg, tendenziell nach unten. Nur durch die Neuausrichtung unseres Blicks vermögen wir sie im Blickfeld zu halten. Hier haben wir einen direkten körperlich-visuellen Ausdruck dessen, was Patanjali „Vrittis" nennt: subtile Wellen, die durch unsere Reaktion auf Reize von innen oder aussen entstehen. Die Vrittis hindern uns an einer längeren Konzentration, denn sie erzeugen Eindrücke in unserem Bewusstsein, die wiederum auf bestimmte Reize reagieren. Diese Neuausrichtung (in der indischen Philosophie auch Fluktuation oder Modifikation genannt) findet auf verschiedenen Ebenen statt: Jeder neue Gedanke, jede Gefühlsregung, jede Ausrichtung des Blicks zeugt von einer Beendigung und Neuanfang der Konzentration. Die Meditation über unsere Punkte und Fäden zeigt uns also stets, wie gross unsere Konzentration bereits ist.

Mit zunehmender Erfahrung im Sehen erreichen wir die zweite Stufe, die Konzentration. Sie zeigt sich darin, dass wir diese Punkte und Fäden besser und länger im Blickfeld halten können, und dass sie allmählich kleiner, schärfer und leuchtender werden. Auch Patanjali spricht in mehreren Versen von der Steigerung des Lichts, das in der Meditation geschieht und nennt das strahlende Licht als möglichen Konzentrationsgegenstand, welcher zum Wissen um das Subtile führe. Dieses Licht kann in den Punkten und Fäden direkt gesehen werden, weshalb Nestor von einer Leuchtstruktur spricht.

Gelingt es uns, die Punkte und Fäden längere Zeit ohne Neuausrichtung des Blicks festzuhalten, haben wir die Stufe der Meditation erreicht. Die Punkte sind nun ruhig, fliessen nur noch wenig und leuchten klar. Unsere Aufmerksamkeit ist nun ununterbrochen auf die Punkte und Fäden der rechten oder der linken Seite ausgerichtet, der innere Sinn dominiert die fünf physiologischen Sinne.

In der letzten Stufe, der Kontemplation, ruhen unsere fünf Sinne nun vollends. Der innere Sinn ist vollständig erwacht und lässt uns unmittelbar und mit grosser Intensität die wahre Bedeutung dieser Kugeln und Fäden und ihre Beziehung zu uns selbst erkennen und fühlen. In der indischen Philosophie hat die kontemplative Erkenntnis oft eine mystische Qualität, insofern der Seher mit dem Gesehenen identisch wird und dabei die befreiende Erkenntnis seines wahren Selbstes erfährt.