25.05.2012, 23:31
Ein bearbeiteter Auszug aus Armin Risi's Buch Einheit im Licht der Ganzheit. Ich bin ihm sehr dankbar dass er es auf mich zukommen lassen hat, ein sehr großartiger Mann mit großartigen Erkenntnissen.
Spirituelles Unterscheidungsvermögen
Warum Polarität und Dualität nicht dasselbe sind
Sind Gut und Böse letztlich eins? Oder ist beides eine Illusion? Oder eine notwendige Erfahrung?
Das Kennen des Unterschieds von Polarität und Dualität ist die Grundlage, die es uns ermöglicht,
Missverständnisse und Halbwahrheiten zu vermeiden und eine klare Ausrichtung des Bewusstseins
zu finden – als Schlüssel zur Schöpfung einer neuen Realität in Resonanz mit der neuen
Zeit.
Einheit, Polarität, Karma – diese einfachen und doch komplexen Themen können auf
unterschiedliche Weise erklärt werden. Grundlegend sind hier zwei Sichtweisen zu unterscheiden,
die der atheistischen oder monistischen Esoterik und die der theistischen (ganzheitlichen)
Spiritualität. Werden die genannten Themen nicht ganzheitlich verstanden, führt dies zu Ansichten
wie: Gut und Böse seien voneinander abhängig, alles sei eine notwendige Erfahrung, wer das
Gute tue, fördere indirekt das Böse, und das Böse fördere indirekt das Gute, denn „alles ist eins“,
„alles ist gut“. Intuitiv verstehen wir natürlich, was mit „alles ist eins“ gemeint ist, doch in der
heutigen Zeit, wo die Intuition vielfach verdrängt oder mental übertönt wird, kann es schnell
geschehen, dass die Klarheit des Wissens und Gewissens verwischt wird, nicht zuletzt auch in
machtpolitischen Kreisen. Der Bewusstseinswandel, der heute auf allen Ebenen notwendig
geworden ist, bringt auch ein neues, spirituelles Unterscheidungsvermögen mit sich.
Theistische und atheistische Esoterik
Die atheistischen Formen von Esoterik sprechen ebenfalls von „Gott“, und das mag verwirrend
sein. Wenn ein Weltbild Gott beinhaltet, wie kann es dann atheistisch sein? Die entscheidende
Frage lautet hier natürlich: Was versteht man unter „Gott“? Die atheistische Esoterik sagt, Gott sei
die „Einheit“ und nur die Einheit sei Realität, was bedeutet, dass alles, was nicht „Einheit“ ist,
Illusion ist. Man glaubt, alles Relative sei Illusion, alles Individuelle sei Illusion, vor allem sei die
Unterscheidung von Gut und Böse Illusion!
Demgegenüber betont das theistische Verständnis, dass Gott nicht nur „Einheit“, sondern
GANZHEIT ist. Ganzheit umfasst sowohl die Einheit als auch die Vielheit, sowohl Nondualität als
auch Individualität*. Wir sollten also unterscheiden zwischen einer ganzheitlichen Spiritualität und
den verschiedenen Formen von Einheitslehren (Lehren, die die Einheit verabsolutieren). Wenn
man nicht die Ganzheit, sondern nur die Einheit als Realität sieht, führt dies zu einem einseitigen,
unvollständigen Verständnis von Dualität, Polarität und Einssein.
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* Individualität: wörtl. „unteilbares Sein und Bewusstsein“, von lat. in- als Verneinung und dividere, „teilen“.
Die Verabsolutierung der Einheit
Die folgenden Zitate veranschaulichen, wie in der Weltsicht der esoterischen Einheitslehren
Dualität und Polarität gleichgesetzt werden. Wer Dualität und Polarität gleichsetzt, meint, Gut und
Böse seien eine polare Einheit und seien nicht zu trennen, weil „alles eins“ sei.
„Weigere ich mich auszuatmen, so kann ich auch nicht mehr einatmen. Nehme ich den negativen Pol
des elektrischen Stroms weg, so verschwindet auch der positive Pol. Genauso bedingt der
Friede den Krieg, das Gute erzwingt das Böse, und das Böse ist der Dünger des Guten. […] Alle
Dinge sind an sich völlig wertfrei und neutral. Die Einstellung des Menschen macht aus ihnen erst
Gegensätze der Freude und des Leids.“
Dieses Zitat stammt aus dem Esoterik-Klassiker Schicksal als Chance von Thorwald Dethlefsen
(1979, S. 73f.). Stimmt das, was hier gesagt wird? Ist alles „völlig wertfrei und neutral“? Bedingt
Friede den Krieg? Erzwingt das Gute das Böse? Dies zu glauben ist die Konsequenz einer
undifferenzierten Einheitslehre: „Allein unsere Überlegungen zum Polaritätsgesetz führen zu der
Konsequenz, dass Gut und Böse zwei Aspekte ein und derselben Einheit und daher in ihrer
Existenz voneinander abhängig sind. Das Gute lebt vom Bösen und das Böse lebt vom Guten –
wer absichtlich das Gute nährt, nährt unbewusst das Böse mit.“ *
Natürlich betonen alle, die solche Einheitslehren vertreten, dass damit keinesfalls ein willkürliches
Verhalten des Menschen legitimiert werde. Gleichzeitig sagen sie jedoch, dass alles „an sich völlig
wertfrei und neutral“ sei, also auch Lüge, Betrug, Krieg, Mord usw. Dies wiederum bedeutet, dass
es letztlich kein Unrecht und auch nichts Böses gibt.
„Unrecht ist im Grunde genommen nur ein subjektives Erlebnis. Objektiv gibt es das nicht. [...] weil
es das Gute und das Böse, die sich als zwei Prinzipien gegenüberstehen, gar nicht gibt. [...] Es
gibt keine Schuld oder Sünde. [...] Das heisst, Sünde hat mit objektiven Handlungen nichts zu tun,
nur mit subjektiven. Es geht um das Bewusstsein.“ **
Intuitiv spüren die meisten Menschen, dass bei solchen Ansichten etwas nicht stimmen kann. Wer
das Gute tue, fördere dadurch das Böse? Wer Böses tue, diene indirekt dem Guten? Es gebe kein
Unrecht und keine Schuld, egal was wir tun oder was die Mächtigen tun?
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* T. Dethlefsen: Ausgewählte Texte, München 1989, S. 62
** J. van Helsing: Geheimgesellschaften 3 – Ein Hochgradfreimaurer packt aus, S. 88, 92, 159, 161
„Alles ist eins“ – auch Gut und Böse?
Wenn in den Geheimlehren der atheistischen Esoterik von „Gott“ gesprochen wird, ist damit eine
absolute Einheit gemeint: ein abstraktes, neutrales Total von Energie, das weder Bewusstsein
noch Willen hat. Dieser „Gott“ ist bewusst-los und willen-los. „Dein Wille geschehe“ ist kein Faktor
in diesem Weltbild, zumindest nicht in bezug auf Gott, so wie Jesus es meinte (Mt 6,10).
Die Ansicht, Gut und Böse seien als „Polarität“ untrennbar miteinander verbunden, führt zu einer
Rechtfertigung des Bösen („das Böse fördert das Gute; ohne das Böse gäbe es nichts Gutes“) und
entspringt einem einseitigen, d. h. halbwahren Verständnis von Karma, welches besagt: „Es gibt
keinen Zufall, es gibt keine unschuldigen Opfer, es gibt kein Unrecht. Alles, was geschieht, haben
die Opfer selber in ihr Leben gerufen. Wäre es nicht ihr Karma gewesen, wäre es ihnen nicht
zugestoßen. Die Tatsache aber, dass es ihnen zustößt, zeigt, dass es ihr Karma war, d. h. von
ihnen selbst verursacht wurde. Denn alle schaffen ihre eigene Realität.“
Bei Argumentationen dieser Art wird meistens verschwiegen, dass die Annahme, es gebe keine
unschuldigen Opfer, auch bedeutet, dass es keine schuldigen Täter gibt – was jedoch nur für die
„Erleuchteten“ gilt. Für den Rest der Menschheit gilt: „Es gibt kein Unrecht, es gibt keine
berechtigte Anklage, sondern nur Selbstanklage. Wenn du in einen Krieg oder in
Konzentrationslager gerätst, bist du selber schuld, und du kannst niemand anderem die Schuld
geben, denn du hast dir diese Realität selber kreiert!“
Solche Aussagen sind nicht unwahr, sie sind halbwahr, und das macht die Verwirrung nur noch
schlimmer. Es wäre besser, nichts von Karma und Reinkarnation zu wissen, als mit solchem
Halbwissen zu argumentieren. Hier sei die Frage erlaubt: Wie kann sich jemand für das Gute, für
Gerechtigkeit und für den Frieden einsetzen, wenn er glaubt, Gut und Böse seien untrennbar
verbunden, das Gute nähre das Böse, und es gebe kein Unrecht?
Was bedeutet „Alles ist eins“?
Die Vielheit ist aus der Einheit entstanden und existiert vor dem Hintergrund dieser Einheit. Die
Einheit und die Vielheit sind nicht Gegensätze, sondern zwei Aspekte der Ganzheit. Aus
theistischer Sicht ist Gott nicht einfach das Total aller Energie oder das Total aller Teile, denn das
Ganze ist immer mehr als die Summe der Teile. Gott ist die allumfassende Realität (Ganzheit), die
sowohl Energie als auch Bewusstsein ist. Wird Gott nur als Energie und Einheit (Nondualität)
gesehen, fallen wir in die Einseitigkeit der atheistischen Weltbilder. Wird Gott nur als Bewusstsein,
d. h. nur als „Person“ gesehen, fallen wir in die Einseitigkeit der religiösen Absolutheits- und
Monopolansprüche.
Die Erkenntnis der Nondualität (Einheit) bedeutet aus theistischer Sicht, dass wir uns nicht mit der
Dualität identifizieren und dass wir angesichts der materiellen Gegensätze (Freud / Leid,
Erfolg / Misserfolg; Gut / Böse usw.) eine innere Neutralität zu entwickeln. Diese Neutralität ist die
Grundlage eines jeden höheren spirituellen Verständnisses. Ganzheitliches Gottesbewusstsein
umfasst jedoch nicht nur die Erkenntnis der Nondualität, sondern auch der Individualität.
Einheit im theistischen Sinn ist das „unteilbare Sein“, was die wörtliche Bedeutung von
Individualität ist. Individualität und Nondualität sind zwei Begriffe für „Einheit“ und beschreiben die
zwei grundlegenden Aspekte der Ganzheit: Nondualität ist die Einheit aller Energie, Individualität
ist die Einheit des Bewusstseins. Da die Ganzheit sowohl das Relative als auch das Absolute
umfasst, ist das unteilbar-bewusste (= individuelle) Sein die ursprüngliche Eigenschaft sowohl des
Absoluten als auch des Relativen. Mit anderen Worten: Weil Gott Bewusstsein und Willen hat,
finden wir diese Eigenschaften auch in uns, den „Teilen“ Gottes.
„Alles ist eins“ bedeutet aus theistischer Sicht: Alles ist verbunden, alles ist Teil derselben
Ganzheit, alles ist eins und verschieden, verbunden und individuell. Die Einheit allen Seins ist
lebendig, differenziert und nicht getrennt; wir sind in Verschiedenheit eins mit Gott. Einheit in der
Vielfalt, Vielfalt in der Einheit.
Liebe ist die höchste Realität
Wenn der Mensch sich selbst und Gott als unteilbares ewiges Sein und Bewusstsein
(„Individuum“) erkennt, erkennt er auch, dass – und warum – Liebe die höchste Realität ist. Denn
Liebe ist das Bewusstsein, in dem wir erkennen, dass wir nie von Gott getrennt sind. Die
Weltbilder, die einseitig das „nur identisch“ oder das „nur getrennt“ sehen, gründen nicht in der
Liebe und können daher auch nicht wirklich unterscheiden, denn das spirituelle Unterscheidungskriterium
ist genau diese Liebe. Was führt zu dieser Liebe? Was entspringt dieser Liebe? Und was
nicht?
In den monistischen Weltbildern wird gesagt, Gott sei nur Einheit. Gott als ein Gegenüber („Gott
als Du“) wird als Illusion bezeichnet. Diese Philosophien verkennen Gott und damit auch die
Menschen als Gegenüber und sehen letztlich kein „Du“, sondern nur das abstrahierte Ich: „Es gibt
keinen Gott außerhalb von mir.“ Ohne die Wahrnehmung des Du sind wirkliche Liebe und
wirkliches Mitgefühl jedoch nicht möglich.
Göttliche Liebe (sanskr. Bhakti ) bedeutet, dass ich Gott als ein Du erlebe, von dem ich nicht getrennt
bin. Im Licht dieses Du erkenne ich mich als Teil der Ganzheit. Gott ist in mir und ich bin in
Gott – das ist eine grundlegende Erkenntnis von Mystikerinnen und Mystikern aller Kulturen und
Religionen. In der Bhagavad-Gita (6,29–30) sagt Krishna: „Wer wahre Selbsterkenntnis erlangt hat
(yoga-yuktâtmâ), sieht mich als Überseele (Paramâtmâ) in allen Wesen und sieht jedes Wesen in
mir. Ein solcher Mensch sieht überall die göttliche Realität. / Wer mich überall sieht und alles in mir
sieht, ist niemals von mir getrennt, und ich bin niemals von ihm getrennt.“ Praktisch das gleiche
sagt auch der 1. Johannes-Brief (4,16) im Neuen Testament: „Gott ist Liebe. Wer in der Liebe lebt,
der lebt in Gott, und Gott lebt in ihm.“
„Ich bin Dein, und Du bist mein“, das ist die ekstatische Gemütsstimmung eines Menschen, der in
heiligen Momenten Gottes Liebe erfahren und erleben durfte. Ausdrucksstark formulierte dies z. B.
der Schweizer Nationalheilige Bruder Klaus (1417–1487):
Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen Dir.
Polarität und Dualität: nicht dasselbe
Was ist der Unterschied zwischen Polarität und Dualität? Diese Begriffe sollten nicht gleichgesetzt
werden, denn sie sind nicht Synonyme. Polarität und Dualität können unterschiedlich erklärt
werden. Die Erklärung, die ich hier gebe, geht von der wörtlichen Bedeutung aus. Polarität enthält
den Begriff „Pol“: Elektrizität besteht aus zwei Polen, die nicht zu trennen sind und sich
gegenseitig bedingen. Ebenso hat eine sich drehende Kugel zwei Pole. Bei der polaren Einheit
von Nordpol und Südpol einer Kugel oder beim positiven und negativen Pol der Elektrizität ist klar,
dass hier gleichwertige Gegenteile gemeint sind, wo es kein Gut und Böse gibt – im Gegensatz
zur Dualität, die entsteht, wenn ein natürliches Gleichgewicht gebrochen wird. Hieraus lassen sich
folgende Definitionen ableiten:
• Polarität: die Zweiheit von gleichwertigen, sich gegenseitig ergänzenden Polen, gründend im
natürlichen Gleichgewicht der göttlichen Ordnung. Polarität ist das Grundprinzip der göttlichen
Schöpfungsdynamik und ist Ausdruck der ursprünglichen Harmonie der materiellen Welt. Die
Grundaspekte der Polarität sind Raum und Zeit, „positiv“ und „negativ“, Yin und Yang, maskulin
und feminin, Schöpfung und Auflösung, Sonne und Mond, Tag und Nacht, usw. Die Polarität als
Grundprinzip der göttlichen Schöpfungsdynamik zeigt sich auch im Ein- und Ausatmen,
angefangen mit dem Urschöpfergott Vishnu, der die Universen aus- und einatmet. Dass unser
Atmen mit dem kosmischen Pulsieren verbunden ist, zeigt sich in jenen Formen von Meditation,
die vom Grundrhythmus des Ein- und Ausatmens ausgehen.
• Dualität: die Zweiheit von gegenteiligen, sich gegenseitig ausschließenden Gegensätzen, die
verursacht wird durch Spaltung und Einseitigkeit. Dualität entsteht, wenn jemand den göttlichen
Mittelweg verlässt und das in der Schöpfung angelegte Gleichgewicht bricht, was religiös als
Sünde bezeichnet wird. Weil Dualität mit der Spaltung und Störung eines natürlichen Gleichgewichts
zusammenhängt, hat sie immer zwei Aspekte: das Zuviel und das Zuwenig.
Die typischen Beispiele von Dualität sind die Gegensätze gut und böse, gottzugewandt und
gottabgewandt, Täter und Opfer, Freund und Feind, Liebe und Hass, Licht und Dunkelheit (als
Symbolik im Sinn von „Im-Licht-Sein“ und „Getrenntheit vom Licht“). Wenn man Dualität und
Polarität gleichsetzt – was alle Einheitslehren tun –, fällt man in die bereits erwähnte Falle, indem
man meint, gut und böse seien nicht zu trennen, so wie bei der Elektrizität der eine Pol nicht vom
anderen zu trennen sei.
Dies jedoch ist ein großer Irrtum, der einer Verwechslung der Ebenen entspringt. Man kann das
Ein- und Ausatmen oder die zwei Pole der Elektrizität (= Polarität) nicht mit Gut und Böse (=
Dualität) gleichsetzen. Nicht zu trennen sind die gleichwertigen Pole der Polarität, doch Polarität
ist nicht dasselbe wie Dualität. Gut und Böse sind nicht gleichwertige Pole der Polarität, sondern
gegensätzliche Aspekte der Dualität. Was innerhalb der Dualität nicht zu trennen ist, sind die
Prinzipien des Zuviel und des Zuwenig. Wer irgendwo im Zuviel ist, ist woanders automatisch in
einem Zuwenig.
Die Dualität des Zuviel und Zuwenig steht immer dem Gleichgewicht gegenüber, zu dessen
Gegenteil sie sich gemacht hat. Das typische Symbol hierfür ist die Dunkelheit, die sich vom Licht
getrennt und vom Licht ausgegrenzt hat. In diesem philosophischen Sinn ist Dunkelheit das
Gegenteil von Licht, aber Licht ist nicht das Gegenteil von Dunkelheit, denn die Ausgrenzung
erfolgte nur von der Seite der Dunkelheit. Nicht das Licht erzeugt die Dunkelheit, sondern die
Kräfte, die sich aus eigener Initiative vom Licht trennen und sich selbst aus dem Licht ausgrenzen
– und dann religiöse oder atheistische Ideologien formulieren, um sich selbst und ihr Verhalten zu
rechtfertigen.
Durchlichtung der eigenen Schatten
Wenn davon gesprochen wird, dass wir unsere „Schatten“ anschauen und nicht verdrängen sollen
und dass es erforderlich sei, sich mit den eigenen Schatten auszusöhnen, dann bezieht sich dies
auf den hier dargelegten Zusammenhang. Unsere Schatten sind all unsere Aspekte, wo wir selber
in der Dualität sind: Wo bin ich im Zuviel? Wo bin ich im Zuwenig? Es geht nicht etwa darum, dass
wir unsere Schatten schönreden oder übertünchen, zum Beispiel indem wir sagen würden, „Gut
und Böse“ / „Licht und Schatten“ seien untrennbar miteinander verbunden und seien erst
zusammen in dieser Zweiheit eine Einheit. Wie oben dargelegt, wäre dies eine verhängnisvolle
Verwechslung bzw. Gleichstellung von Polarität und Dualität und eine Fehlinterpretation der
Symbolik von Yin und Yang. (In den hier gegebenen Definitionen symbolisiert das Yin-Yang die
Polarität und nicht die Dualität.)
Das Gute ist nicht abhängig vom Bösen
Zur Dualität gehören Gegensätze wie gut und böse, gottzugewandt und gottabgewandt, Unschuld
und Schuld, Opfer und Täter, Recht und Unrecht, usw. Das bedeutet aber nicht, dass gut und
böse gleichwertig und nicht zu trennen sind, wie die Einheitslehren der atheistischen Esoterik
behaupten. Warum nicht?
Die Begriffe „gut“ und „böse“ sind relativ, und relativ bedeutet „abhängig von Bedingungen; in
Relation stehend“. Das Relative definiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern ist abhängig
von höheren Kriterien. Philosophisch gesprochen: Das Relative ist abhängig vom Absoluten. Das
Gute ist nicht einfach deswegen gut, weil es das Gegenteil des Bösen ist. Das Gute ist gut, weil
es in Resonanz mit dem göttlichen Willen, der göttlichen Liebe, ist. Das Böse hingegen
definiert sich nur durch die Negation des Guten. Deshalb besteht die negierende („negative“) Seite
der Dualität immer aus zwei Einseitigkeiten, dem Zuviel und dem Zuwenig.
Bildlich gesprochen, stehen die Aspekte der Polarität nebeneinander (sie sind gleichwertig), die
Aspekte der Dualität stehen untereinander (sie sind nicht gleichwertig, sondern gegensätzlich).
Gleichgewicht (Polarität)
|
Gebrochenes Gleichgewicht (Dualität):
Zuviel / Zuwenig
Gut
|
Böse:
Übergriffe, Übertreibung / falsche oder feige Unterlassungen
Liebe
|
Hass:
Rache, Verleumdung / Behalten von negativen Gefühlen
gottzugewandt
|
gottabgewandt:
Ego-Überhöhung / Selbst-Erniedrigung
Warum sind Gut und Böse nicht gleichwertig, es sind doch beides relative Realitäten? Weil das
Relative nicht unabhängig existiert, sondern immer eingefügt ist in das Ganze und immer einen
Bezug zum Absoluten hat. Deshalb ist es entscheidend, was wir unter „absolut“ verstehen. Im
ganzheitlichen Verständnis sehen wir das Absolute als den lebendigen Gott mit Bewusstsein und
Willen, weshalb wir hier – und nur hier – einen höheren Maßstab haben, nämlich Gottes Willen (=
Liebe, Verbundensein mit der Quelle, Einssein mit Gott und allen Teilen Gottes). Das Gute, auch
das relative Gute, steht in Resonanz mit Gottes Willen, wohingegen das Böse sich selbst abtrennt
und abspaltet so wie die symbolische Dunkelheit vom Licht.
Diese Abtrennung und Spaltung kann sehr subtil beginnen. Wie es in einer bekannten Aussage
heisst: Das Böse beginnt oft mit der Übertreibung des Guten. Das Originalzitat hierzu stammt von
der hl. Teresa von Avila (1515 – 1582): „Wen der Teufel nicht verführen kann zur Sünde, den verführt
er zur Übertreibung des Guten.“
Die Dualität sollte also, genau wie „Einheit“, nicht undifferenziert betrachtet werden: Das Böse ist
das Gegenteil des Guten, aber das Gute ist nicht einfach das Gegenteil des Bösen. Das Gute
definiert sich nicht durch sein Gegenteil, sondern durch seine Entsprechung mit der göttlichen
Ordnung. Mit anderen Worten: Das Gute kann aus sich selbst heraus existieren, das Böse
hingegen ist eine Verneinung der göttlichen Ordnung und führt als spaltende Kraft in die eine oder
die andere Form von Einseitigkeit, bis in die Extreme. Irrtum ist verfehlte Wahrheit, aber Wahrheit
ist nicht einfach ein verfehlter Irrtum. Hass ist Mangel an Liebe, aber Liebe ist nicht einfach ein
Mangel an Hass. Krieg ist Abwesenheit von Frieden, aber Friede ist nicht einfach Abwesenheit
von Krieg.
Die atheistische bzw. monistische Esoterik führt zum Trugschluss, gut und böse seien eine
„Einheit“ und könnten nur gegenseitig existieren, das heisst: Liebe könne nicht ohne Hass existieren
und ohne Hass gäbe es keine Liebe. Ohne Lüge gäbe es keine Ehrlichkeit. Ohne Dunkelheit
gäbe es kein Licht! Ohne das Böse gäbe es nichts Gutes – das ist die archetypische „luziferische“
Selbstrechtfertigung des Bösen. Die atheistische Esoterik tendiert dazu, ein Sprachrohr dieser
Weltsicht zu sein.
Das theistische Verständnis von Karma
Es gibt keinen Zufall. Bedeutet dies auch, dass es keine unschuldigen Opfer gibt? Und keine
schuldigen Täter? Keine Schuld, keine Sünde, kein Unrecht? Ist alles, was geschieht, eine
ausgleichende Gerechtigkeit? Eine weit verbreitete esoterische Ansicht besagt, wenn z.B. ein
Schänder ein Kind misshandle oder ermorde, dann entspreche dies dem „Karma“ und der
„Resonanz“ dieses Kindes. Wer heute Opfer sei, sei im letzten Leben selbst ein Täter gewesen.
Das Opfer habe sich den Täter in das eigene Leben gerufen.
Betrachten wir diese Ansicht näher. Wenn Person A der Person B etwas antut, dann bedeutet das
gemäß der obigen Logik, dass B im letzten Leben A etwas angetan hat. Aber dort fingʼs ebenfalls
nicht an, da es keine unschuldigen Opfer gibt. Also hatte vorher A der Person B etwas angetan,
weil B vorher A etwas angetan hatte, weil A vorher B etwas angetan hatte, usw. Wann hat dies
begonnen? Bei der Schöpfung? Bei „Adam und Eva“? Was hier vorliegt, ist die esoterische
Version der religiösen Prädestinationslehre.*
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* Prädestinationslehre: Glaube, dass alles, was geschieht, durch den Willen Gottes vorausbestimmt („prädestiniert“)
ist. Die religiöse Prädestinationslehre gründet in der Fehlauffassung, dass der Mensch keinen freien Willen haben
könne, weil ein freier Wille im Widerspruch zu Gottes Allmacht und Allwissenheit stehen würde. Demgegenüber betont
das theistische Verständnis, dass Gott sowohl Energie (Einheit, Nondualität) als auch Bewusstsein („Person“,
Individualität) ist. Die religiöse P. verabsolutiert einseitig letzteres („Es gibt nur Gottes Willen“), die esoterische P.
ersteres („Es gibt nur Gottes Gesetze“). Beide verkennen die entscheidende Rolle des freien Willens in der Kausalität
(Karma) und vertreten einen pseudoreligiösen bzw. pseudoesoterischen Determinismus.
Irgend etwas stimmt an dieser Logik nicht. Der Hauptfehler ist, dass Karma mit Prädestination
gleichgesetzt wird, was eine Halbwahrheit ist, denn Prädestination ist nur die eine Hälfte des
Karma-Gesetzes, des Gesetzes von Ursache und Wirkung (Kausalität). Prädestination ist die eine
Seite des Karma, der freie Wille die andere. Kausalität (Karma) bedeutet die Abfolge von Ursache
und Wirkung gemäß dem Prinzip von Aktion und Reaktion. Was immer wir tun (Aktion), erzeugt
eine Reaktion. Die Reaktion ist prädestiniert, aber was wir in der jeweiligen prädestinierten
Situation tun, entscheiden wir mit unserem freien Willen. Das heisst: In der Reaktion wirkt die
Prädestination, in der Aktion der freie Wille.
Betrachten wir obiges Beispiel: Selbst wenn B der Person A etwas angetan hat und A im nächsten
Leben gemäß Prädestination in die Situation kommt, B etwas Ähnliches anzutun, hat A auch einen
freien Willen und damit Verantwortung. (Deswegen gehört es auch zu unserer Verantwortung,
inwieweit wir uns unseren freien Willen bewahren.) B hat A etwas angetan, und so begegnen sich
die beiden wieder, und B ist dieses Mal vielleicht ein wehrloses Mädchen und A ein erwachsener
Mann. Durch die Resonanz der Kausalität verspürt A den Impuls, dem Mädchen etwas anzutun,
aber gleichzeitig spürt A auch das eigene Gewissen und die innere Stimme, die rufen: „Tu das
nicht!“ Wir wissen, dass Gewalt, Betrug, Mord usw. verboten, kriminell und „nicht gut“ sind.
Prädestiniert ist immer nur die Situation, aber die Prädestination zwingt uns nicht zu einer
bestimmten Handlung, weil immer auch der freie Wille vorhanden ist. Karma bedeutet also nicht
ein „prädestiniertes Handeln“. Es gibt sehr wohl Unrecht, auch „objektiv“. Nicht alles entspricht
dem „Dein Wille geschehe“.
Entscheidet sich A, B etwas anzutun, wird A zu einem Täter. Die beiden sind dann nicht etwa quitt,
sondern die Situation hat sich verkompliziert, weil es jetzt zwei Schuldige (zwei Täter) und zwei
Opfer gibt. Die Kettenreaktion von Täter und Opfer geht so lange weiter, bis die beteiligten
Personen freiwillig aus dem Teufelskreis von Schlagen und Zurückschlagen aussteigen und als
Opfer das Geschehene verzeihen und loslassen bzw. als Täter das Geschehene bereuen und
wiedergutmachen. Dies meinte Jesus, als er sagte: „Wenn dich einer auf die Wange schlägt, dann
halte auch die andere hin“ (Lk 6,29), und „Liebt eure Feinde und betet für sie“ (Mt 5,44).
Auflösung von Karma-Ketten
Es stimmt: Es gibt keine Zufälle. Alles, was geschieht, hat eine Ursache, und die Hauptursache ist
letztlich der freie Wille. Wir haben immer die Möglichkeit, die Weichen neu zu stellen. Das Leben
und der freie Wille finden immer in der Gegenwart statt. Wir können jederzeit neue Karma-Ketten
beginnen und auch alte Karma-Ketten auflösen.
Wenn Menschen, die zu Opfern wurden, ihre Karma-Ketten auflösen wollen, müssen sie ihre
Opferhaltung aufgeben, das Trauma heilen und dem Täter oder den Tätern verzeihen. Wenn sie in
eine Opferhaltung fielen oder wenn sie Rachegefühle entwickelten, ist es notwendig, dass sie sich
auch selbst verzeihen. Opfer, die diese Schritte nicht tun, werden früher oder später selbst zu
Tätern.
Wenn ein Täter seine Karma-Ketten auflösen will, muss er seine Schuld erkennen, seine Tat
bereuen und das Unrecht wiedergutmachen. Und ebenso ist es auch für ihn notwendig, sich selbst
zu verzeihen.
Wer immer diese Schritte tut, hat für sich die entsprechende Karma-Kettenreaktion aufgelöst,
selbst wenn die anderen Beteiligten diese Schritte nicht tun. Die „Verbliebenen“ werden gemäß
den geistigen Gesetzen dann in Situationen geraten, in denen sie mit den gleichen Lektionen
konfrontiert werden und anderen Personen begegnen, die ihre Schritte zur Auflösung der Karma-
Reaktionen ebenfalls noch nicht getan haben. Dies hat nichts mit einem strafenden Gott zu tun,
sondern mit dem Gesetz der Polarität und des Ausgleichs.
All die Karma-Halbwahrheiten, die besagen, es gebe kein Unrecht und keine Schuld, Gut und
Böse seien untrennbar verbunden und gegenseitig abhängig und so weiter, behalten die
Menschen in der Spaltung und Dunkelheit – auch wenn diese Dunkelheit für „Licht“ und
„Erleuchtung“ gehalten wird –, weil sie das Auflösen der Karma-Ketten verhindern. Denn wenn
jemand dies glaubt, wie will er dann seine Schuld erkennen, Reue empfinden und einsehen, dass
das, was er getan hat, ein Unrecht war und eine Wiedergutmachung erfordert?
Opfer, Täter und Tat
In Weiterführung der Erkenntnis, dass Irrtum verfehlte Wahrheit, aber Wahrheit nicht einfach
verfehlter Irrtum ist, können wir auch sagen: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Aber nicht
jeder ist seines eigenen Unglücks Schmied! Jede Karma-Kettenreaktion hat einen Anfang, der von
einer Person gesetzt wird, die eine entsprechende Tat ausführt und andere Menschen zu Opfern
macht, d.h. einen Übergriff ausführt. Hier stellt sich die Frage: Entspricht es nicht der Resonanz
dieser Menschen, dass gerade sie zu Opfern werden?
Diese Frage ist berechtigt, sollte aber nicht von der Schuld des Täters ablenken, und die Antwort
lautet: „Urteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet. Denn euer Urteil wird auf euch zurückfallen“
(Mt 7,1–2). Niemandem steht es zu, über andere Menschen zu urteilen und zu sagen: „Das ist
deine Resonanz, das ist dein Karma, diese Realität hast du dir selbst geschaffen.“ Denn wir
können nie genau wissen, warum jemand Gewalt, Unrecht usw. erfährt. Vielleicht ist es das
Ergebnis einer nicht abgeschlossenen Karma-Kette. Vielleicht ist es deshalb, weil jemand eine
neue Karma-Kette beginnt. Vielleicht ist es deshalb, weil jemand sich zur Verfügung stellte, damit
die Täter durch ihre Tat zur Besinnung kommen können. Diese Vielleicht-Fragen sind nicht das
Entscheidende. Die wirklich wichtige Frage lautet: „Was tue ich, was tun wir in der JETZT
gegebenen Situation?“
Wenn es zu einer Situation mit Tätern und Opfern kommt und wir zu denjenigen gehören, die
Unrecht erfahren, sind wir zwar „Opfer“, aber wir brauchen deswegen nicht in ein
Opferbewusstsein und in eine Opferhaltung zu fallen. Denn jede Situation hat einen höheren Sinn
und einen Aspekt, der uns etwas lehren will. Dies können wir jedoch immer nur auf uns selbst
anwenden: Was will diese Situation mir zeigen? Was habe ich hier zu lernen?
Alles hat einen Sinn. Aber diesen Sinn können wir immer nur für uns selbst erkennen. Wir können
aus allen Situationen lernen, auch aus der Konfrontation mit dem Bösen. Aber das heisst nicht,
dass das Böse deshalb nicht mehr böse ist. Der vielzitierte Goethe-Spruch „Ich bin die Kraft, die
stets das Böse will und doch das Gute schafft“, ist kein Wort Gottes, sondern ein Spruch des
Mephisto und bringt die luziferische Selbstrechtfertigung zum Ausdruck.
Das Böse hat noch nie etwas Gutes geschaffen, so wie Dunkelheit noch nie Licht hervorgebracht
hat. Es sind einzelne Menschen, die für sich in einer Situation des Bösen das Gute, d.h. den
göttlichen Sinn, erkennen. Dieses Gute wurde aber nicht vom Bösen geschaffen, sondern von
jenen Menschen, die sich vom Bösen nicht beeinflussen und brechen ließen. Und das war nur
möglich durch ihre innere Verbindung mit dem absoluten Bewusstsein Gottes, das sowohl Liebe
als auch Gnade umfasst.
Mit anderen Worten, das Universum ist nicht einfach eine gottlose Einheit von Energie ohne
inhärente Intention, wie in den Weltbildern des Materialismus und Monismus geglaubt wird
(„Selbstorganisation des Universums“). Hinter allem, im Relativen wie im Absoluten, wirkt Bewusstsein
als Hauptfaktor der Kausalität – und deshalb auch in der Polarität und in der Dualität.
Was in dieser Formulierung „theoretisch“ klingt, hat in der praktischen Übersetzung äußerst
konkrete und aktuelle Bezüge. Denn wie eingangs erwähnt: Der Bewusstseinswandel, der heute
auf allen Ebenen notwendig geworden ist, kann nur geschehen, wenn die Menschen die
vorherrschenden Spaltungen und Einseitigkeiten als solche erkennen und durch ein neues,
spirituelles Unterscheidungsvermögen überwinden.
www.armin-risi.ch
www.theistic-network.org
Spirituelles Unterscheidungsvermögen
Warum Polarität und Dualität nicht dasselbe sind
Sind Gut und Böse letztlich eins? Oder ist beides eine Illusion? Oder eine notwendige Erfahrung?
Das Kennen des Unterschieds von Polarität und Dualität ist die Grundlage, die es uns ermöglicht,
Missverständnisse und Halbwahrheiten zu vermeiden und eine klare Ausrichtung des Bewusstseins
zu finden – als Schlüssel zur Schöpfung einer neuen Realität in Resonanz mit der neuen
Zeit.
Einheit, Polarität, Karma – diese einfachen und doch komplexen Themen können auf
unterschiedliche Weise erklärt werden. Grundlegend sind hier zwei Sichtweisen zu unterscheiden,
die der atheistischen oder monistischen Esoterik und die der theistischen (ganzheitlichen)
Spiritualität. Werden die genannten Themen nicht ganzheitlich verstanden, führt dies zu Ansichten
wie: Gut und Böse seien voneinander abhängig, alles sei eine notwendige Erfahrung, wer das
Gute tue, fördere indirekt das Böse, und das Böse fördere indirekt das Gute, denn „alles ist eins“,
„alles ist gut“. Intuitiv verstehen wir natürlich, was mit „alles ist eins“ gemeint ist, doch in der
heutigen Zeit, wo die Intuition vielfach verdrängt oder mental übertönt wird, kann es schnell
geschehen, dass die Klarheit des Wissens und Gewissens verwischt wird, nicht zuletzt auch in
machtpolitischen Kreisen. Der Bewusstseinswandel, der heute auf allen Ebenen notwendig
geworden ist, bringt auch ein neues, spirituelles Unterscheidungsvermögen mit sich.
Theistische und atheistische Esoterik
Die atheistischen Formen von Esoterik sprechen ebenfalls von „Gott“, und das mag verwirrend
sein. Wenn ein Weltbild Gott beinhaltet, wie kann es dann atheistisch sein? Die entscheidende
Frage lautet hier natürlich: Was versteht man unter „Gott“? Die atheistische Esoterik sagt, Gott sei
die „Einheit“ und nur die Einheit sei Realität, was bedeutet, dass alles, was nicht „Einheit“ ist,
Illusion ist. Man glaubt, alles Relative sei Illusion, alles Individuelle sei Illusion, vor allem sei die
Unterscheidung von Gut und Böse Illusion!
Demgegenüber betont das theistische Verständnis, dass Gott nicht nur „Einheit“, sondern
GANZHEIT ist. Ganzheit umfasst sowohl die Einheit als auch die Vielheit, sowohl Nondualität als
auch Individualität*. Wir sollten also unterscheiden zwischen einer ganzheitlichen Spiritualität und
den verschiedenen Formen von Einheitslehren (Lehren, die die Einheit verabsolutieren). Wenn
man nicht die Ganzheit, sondern nur die Einheit als Realität sieht, führt dies zu einem einseitigen,
unvollständigen Verständnis von Dualität, Polarität und Einssein.
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* Individualität: wörtl. „unteilbares Sein und Bewusstsein“, von lat. in- als Verneinung und dividere, „teilen“.
Die Verabsolutierung der Einheit
Die folgenden Zitate veranschaulichen, wie in der Weltsicht der esoterischen Einheitslehren
Dualität und Polarität gleichgesetzt werden. Wer Dualität und Polarität gleichsetzt, meint, Gut und
Böse seien eine polare Einheit und seien nicht zu trennen, weil „alles eins“ sei.
„Weigere ich mich auszuatmen, so kann ich auch nicht mehr einatmen. Nehme ich den negativen Pol
des elektrischen Stroms weg, so verschwindet auch der positive Pol. Genauso bedingt der
Friede den Krieg, das Gute erzwingt das Böse, und das Böse ist der Dünger des Guten. […] Alle
Dinge sind an sich völlig wertfrei und neutral. Die Einstellung des Menschen macht aus ihnen erst
Gegensätze der Freude und des Leids.“
Dieses Zitat stammt aus dem Esoterik-Klassiker Schicksal als Chance von Thorwald Dethlefsen
(1979, S. 73f.). Stimmt das, was hier gesagt wird? Ist alles „völlig wertfrei und neutral“? Bedingt
Friede den Krieg? Erzwingt das Gute das Böse? Dies zu glauben ist die Konsequenz einer
undifferenzierten Einheitslehre: „Allein unsere Überlegungen zum Polaritätsgesetz führen zu der
Konsequenz, dass Gut und Böse zwei Aspekte ein und derselben Einheit und daher in ihrer
Existenz voneinander abhängig sind. Das Gute lebt vom Bösen und das Böse lebt vom Guten –
wer absichtlich das Gute nährt, nährt unbewusst das Böse mit.“ *
Natürlich betonen alle, die solche Einheitslehren vertreten, dass damit keinesfalls ein willkürliches
Verhalten des Menschen legitimiert werde. Gleichzeitig sagen sie jedoch, dass alles „an sich völlig
wertfrei und neutral“ sei, also auch Lüge, Betrug, Krieg, Mord usw. Dies wiederum bedeutet, dass
es letztlich kein Unrecht und auch nichts Böses gibt.
„Unrecht ist im Grunde genommen nur ein subjektives Erlebnis. Objektiv gibt es das nicht. [...] weil
es das Gute und das Böse, die sich als zwei Prinzipien gegenüberstehen, gar nicht gibt. [...] Es
gibt keine Schuld oder Sünde. [...] Das heisst, Sünde hat mit objektiven Handlungen nichts zu tun,
nur mit subjektiven. Es geht um das Bewusstsein.“ **
Intuitiv spüren die meisten Menschen, dass bei solchen Ansichten etwas nicht stimmen kann. Wer
das Gute tue, fördere dadurch das Böse? Wer Böses tue, diene indirekt dem Guten? Es gebe kein
Unrecht und keine Schuld, egal was wir tun oder was die Mächtigen tun?
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* T. Dethlefsen: Ausgewählte Texte, München 1989, S. 62
** J. van Helsing: Geheimgesellschaften 3 – Ein Hochgradfreimaurer packt aus, S. 88, 92, 159, 161
„Alles ist eins“ – auch Gut und Böse?
Wenn in den Geheimlehren der atheistischen Esoterik von „Gott“ gesprochen wird, ist damit eine
absolute Einheit gemeint: ein abstraktes, neutrales Total von Energie, das weder Bewusstsein
noch Willen hat. Dieser „Gott“ ist bewusst-los und willen-los. „Dein Wille geschehe“ ist kein Faktor
in diesem Weltbild, zumindest nicht in bezug auf Gott, so wie Jesus es meinte (Mt 6,10).
Die Ansicht, Gut und Böse seien als „Polarität“ untrennbar miteinander verbunden, führt zu einer
Rechtfertigung des Bösen („das Böse fördert das Gute; ohne das Böse gäbe es nichts Gutes“) und
entspringt einem einseitigen, d. h. halbwahren Verständnis von Karma, welches besagt: „Es gibt
keinen Zufall, es gibt keine unschuldigen Opfer, es gibt kein Unrecht. Alles, was geschieht, haben
die Opfer selber in ihr Leben gerufen. Wäre es nicht ihr Karma gewesen, wäre es ihnen nicht
zugestoßen. Die Tatsache aber, dass es ihnen zustößt, zeigt, dass es ihr Karma war, d. h. von
ihnen selbst verursacht wurde. Denn alle schaffen ihre eigene Realität.“
Bei Argumentationen dieser Art wird meistens verschwiegen, dass die Annahme, es gebe keine
unschuldigen Opfer, auch bedeutet, dass es keine schuldigen Täter gibt – was jedoch nur für die
„Erleuchteten“ gilt. Für den Rest der Menschheit gilt: „Es gibt kein Unrecht, es gibt keine
berechtigte Anklage, sondern nur Selbstanklage. Wenn du in einen Krieg oder in
Konzentrationslager gerätst, bist du selber schuld, und du kannst niemand anderem die Schuld
geben, denn du hast dir diese Realität selber kreiert!“
Solche Aussagen sind nicht unwahr, sie sind halbwahr, und das macht die Verwirrung nur noch
schlimmer. Es wäre besser, nichts von Karma und Reinkarnation zu wissen, als mit solchem
Halbwissen zu argumentieren. Hier sei die Frage erlaubt: Wie kann sich jemand für das Gute, für
Gerechtigkeit und für den Frieden einsetzen, wenn er glaubt, Gut und Böse seien untrennbar
verbunden, das Gute nähre das Böse, und es gebe kein Unrecht?
Was bedeutet „Alles ist eins“?
Die Vielheit ist aus der Einheit entstanden und existiert vor dem Hintergrund dieser Einheit. Die
Einheit und die Vielheit sind nicht Gegensätze, sondern zwei Aspekte der Ganzheit. Aus
theistischer Sicht ist Gott nicht einfach das Total aller Energie oder das Total aller Teile, denn das
Ganze ist immer mehr als die Summe der Teile. Gott ist die allumfassende Realität (Ganzheit), die
sowohl Energie als auch Bewusstsein ist. Wird Gott nur als Energie und Einheit (Nondualität)
gesehen, fallen wir in die Einseitigkeit der atheistischen Weltbilder. Wird Gott nur als Bewusstsein,
d. h. nur als „Person“ gesehen, fallen wir in die Einseitigkeit der religiösen Absolutheits- und
Monopolansprüche.
Die Erkenntnis der Nondualität (Einheit) bedeutet aus theistischer Sicht, dass wir uns nicht mit der
Dualität identifizieren und dass wir angesichts der materiellen Gegensätze (Freud / Leid,
Erfolg / Misserfolg; Gut / Böse usw.) eine innere Neutralität zu entwickeln. Diese Neutralität ist die
Grundlage eines jeden höheren spirituellen Verständnisses. Ganzheitliches Gottesbewusstsein
umfasst jedoch nicht nur die Erkenntnis der Nondualität, sondern auch der Individualität.
Einheit im theistischen Sinn ist das „unteilbare Sein“, was die wörtliche Bedeutung von
Individualität ist. Individualität und Nondualität sind zwei Begriffe für „Einheit“ und beschreiben die
zwei grundlegenden Aspekte der Ganzheit: Nondualität ist die Einheit aller Energie, Individualität
ist die Einheit des Bewusstseins. Da die Ganzheit sowohl das Relative als auch das Absolute
umfasst, ist das unteilbar-bewusste (= individuelle) Sein die ursprüngliche Eigenschaft sowohl des
Absoluten als auch des Relativen. Mit anderen Worten: Weil Gott Bewusstsein und Willen hat,
finden wir diese Eigenschaften auch in uns, den „Teilen“ Gottes.
„Alles ist eins“ bedeutet aus theistischer Sicht: Alles ist verbunden, alles ist Teil derselben
Ganzheit, alles ist eins und verschieden, verbunden und individuell. Die Einheit allen Seins ist
lebendig, differenziert und nicht getrennt; wir sind in Verschiedenheit eins mit Gott. Einheit in der
Vielfalt, Vielfalt in der Einheit.
Liebe ist die höchste Realität
Wenn der Mensch sich selbst und Gott als unteilbares ewiges Sein und Bewusstsein
(„Individuum“) erkennt, erkennt er auch, dass – und warum – Liebe die höchste Realität ist. Denn
Liebe ist das Bewusstsein, in dem wir erkennen, dass wir nie von Gott getrennt sind. Die
Weltbilder, die einseitig das „nur identisch“ oder das „nur getrennt“ sehen, gründen nicht in der
Liebe und können daher auch nicht wirklich unterscheiden, denn das spirituelle Unterscheidungskriterium
ist genau diese Liebe. Was führt zu dieser Liebe? Was entspringt dieser Liebe? Und was
nicht?
In den monistischen Weltbildern wird gesagt, Gott sei nur Einheit. Gott als ein Gegenüber („Gott
als Du“) wird als Illusion bezeichnet. Diese Philosophien verkennen Gott und damit auch die
Menschen als Gegenüber und sehen letztlich kein „Du“, sondern nur das abstrahierte Ich: „Es gibt
keinen Gott außerhalb von mir.“ Ohne die Wahrnehmung des Du sind wirkliche Liebe und
wirkliches Mitgefühl jedoch nicht möglich.
Göttliche Liebe (sanskr. Bhakti ) bedeutet, dass ich Gott als ein Du erlebe, von dem ich nicht getrennt
bin. Im Licht dieses Du erkenne ich mich als Teil der Ganzheit. Gott ist in mir und ich bin in
Gott – das ist eine grundlegende Erkenntnis von Mystikerinnen und Mystikern aller Kulturen und
Religionen. In der Bhagavad-Gita (6,29–30) sagt Krishna: „Wer wahre Selbsterkenntnis erlangt hat
(yoga-yuktâtmâ), sieht mich als Überseele (Paramâtmâ) in allen Wesen und sieht jedes Wesen in
mir. Ein solcher Mensch sieht überall die göttliche Realität. / Wer mich überall sieht und alles in mir
sieht, ist niemals von mir getrennt, und ich bin niemals von ihm getrennt.“ Praktisch das gleiche
sagt auch der 1. Johannes-Brief (4,16) im Neuen Testament: „Gott ist Liebe. Wer in der Liebe lebt,
der lebt in Gott, und Gott lebt in ihm.“
„Ich bin Dein, und Du bist mein“, das ist die ekstatische Gemütsstimmung eines Menschen, der in
heiligen Momenten Gottes Liebe erfahren und erleben durfte. Ausdrucksstark formulierte dies z. B.
der Schweizer Nationalheilige Bruder Klaus (1417–1487):
Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu Dir.
Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen Dir.
Polarität und Dualität: nicht dasselbe
Was ist der Unterschied zwischen Polarität und Dualität? Diese Begriffe sollten nicht gleichgesetzt
werden, denn sie sind nicht Synonyme. Polarität und Dualität können unterschiedlich erklärt
werden. Die Erklärung, die ich hier gebe, geht von der wörtlichen Bedeutung aus. Polarität enthält
den Begriff „Pol“: Elektrizität besteht aus zwei Polen, die nicht zu trennen sind und sich
gegenseitig bedingen. Ebenso hat eine sich drehende Kugel zwei Pole. Bei der polaren Einheit
von Nordpol und Südpol einer Kugel oder beim positiven und negativen Pol der Elektrizität ist klar,
dass hier gleichwertige Gegenteile gemeint sind, wo es kein Gut und Böse gibt – im Gegensatz
zur Dualität, die entsteht, wenn ein natürliches Gleichgewicht gebrochen wird. Hieraus lassen sich
folgende Definitionen ableiten:
• Polarität: die Zweiheit von gleichwertigen, sich gegenseitig ergänzenden Polen, gründend im
natürlichen Gleichgewicht der göttlichen Ordnung. Polarität ist das Grundprinzip der göttlichen
Schöpfungsdynamik und ist Ausdruck der ursprünglichen Harmonie der materiellen Welt. Die
Grundaspekte der Polarität sind Raum und Zeit, „positiv“ und „negativ“, Yin und Yang, maskulin
und feminin, Schöpfung und Auflösung, Sonne und Mond, Tag und Nacht, usw. Die Polarität als
Grundprinzip der göttlichen Schöpfungsdynamik zeigt sich auch im Ein- und Ausatmen,
angefangen mit dem Urschöpfergott Vishnu, der die Universen aus- und einatmet. Dass unser
Atmen mit dem kosmischen Pulsieren verbunden ist, zeigt sich in jenen Formen von Meditation,
die vom Grundrhythmus des Ein- und Ausatmens ausgehen.
• Dualität: die Zweiheit von gegenteiligen, sich gegenseitig ausschließenden Gegensätzen, die
verursacht wird durch Spaltung und Einseitigkeit. Dualität entsteht, wenn jemand den göttlichen
Mittelweg verlässt und das in der Schöpfung angelegte Gleichgewicht bricht, was religiös als
Sünde bezeichnet wird. Weil Dualität mit der Spaltung und Störung eines natürlichen Gleichgewichts
zusammenhängt, hat sie immer zwei Aspekte: das Zuviel und das Zuwenig.
Die typischen Beispiele von Dualität sind die Gegensätze gut und böse, gottzugewandt und
gottabgewandt, Täter und Opfer, Freund und Feind, Liebe und Hass, Licht und Dunkelheit (als
Symbolik im Sinn von „Im-Licht-Sein“ und „Getrenntheit vom Licht“). Wenn man Dualität und
Polarität gleichsetzt – was alle Einheitslehren tun –, fällt man in die bereits erwähnte Falle, indem
man meint, gut und böse seien nicht zu trennen, so wie bei der Elektrizität der eine Pol nicht vom
anderen zu trennen sei.
Dies jedoch ist ein großer Irrtum, der einer Verwechslung der Ebenen entspringt. Man kann das
Ein- und Ausatmen oder die zwei Pole der Elektrizität (= Polarität) nicht mit Gut und Böse (=
Dualität) gleichsetzen. Nicht zu trennen sind die gleichwertigen Pole der Polarität, doch Polarität
ist nicht dasselbe wie Dualität. Gut und Böse sind nicht gleichwertige Pole der Polarität, sondern
gegensätzliche Aspekte der Dualität. Was innerhalb der Dualität nicht zu trennen ist, sind die
Prinzipien des Zuviel und des Zuwenig. Wer irgendwo im Zuviel ist, ist woanders automatisch in
einem Zuwenig.
Die Dualität des Zuviel und Zuwenig steht immer dem Gleichgewicht gegenüber, zu dessen
Gegenteil sie sich gemacht hat. Das typische Symbol hierfür ist die Dunkelheit, die sich vom Licht
getrennt und vom Licht ausgegrenzt hat. In diesem philosophischen Sinn ist Dunkelheit das
Gegenteil von Licht, aber Licht ist nicht das Gegenteil von Dunkelheit, denn die Ausgrenzung
erfolgte nur von der Seite der Dunkelheit. Nicht das Licht erzeugt die Dunkelheit, sondern die
Kräfte, die sich aus eigener Initiative vom Licht trennen und sich selbst aus dem Licht ausgrenzen
– und dann religiöse oder atheistische Ideologien formulieren, um sich selbst und ihr Verhalten zu
rechtfertigen.
Durchlichtung der eigenen Schatten
Wenn davon gesprochen wird, dass wir unsere „Schatten“ anschauen und nicht verdrängen sollen
und dass es erforderlich sei, sich mit den eigenen Schatten auszusöhnen, dann bezieht sich dies
auf den hier dargelegten Zusammenhang. Unsere Schatten sind all unsere Aspekte, wo wir selber
in der Dualität sind: Wo bin ich im Zuviel? Wo bin ich im Zuwenig? Es geht nicht etwa darum, dass
wir unsere Schatten schönreden oder übertünchen, zum Beispiel indem wir sagen würden, „Gut
und Böse“ / „Licht und Schatten“ seien untrennbar miteinander verbunden und seien erst
zusammen in dieser Zweiheit eine Einheit. Wie oben dargelegt, wäre dies eine verhängnisvolle
Verwechslung bzw. Gleichstellung von Polarität und Dualität und eine Fehlinterpretation der
Symbolik von Yin und Yang. (In den hier gegebenen Definitionen symbolisiert das Yin-Yang die
Polarität und nicht die Dualität.)
Das Gute ist nicht abhängig vom Bösen
Zur Dualität gehören Gegensätze wie gut und böse, gottzugewandt und gottabgewandt, Unschuld
und Schuld, Opfer und Täter, Recht und Unrecht, usw. Das bedeutet aber nicht, dass gut und
böse gleichwertig und nicht zu trennen sind, wie die Einheitslehren der atheistischen Esoterik
behaupten. Warum nicht?
Die Begriffe „gut“ und „böse“ sind relativ, und relativ bedeutet „abhängig von Bedingungen; in
Relation stehend“. Das Relative definiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern ist abhängig
von höheren Kriterien. Philosophisch gesprochen: Das Relative ist abhängig vom Absoluten. Das
Gute ist nicht einfach deswegen gut, weil es das Gegenteil des Bösen ist. Das Gute ist gut, weil
es in Resonanz mit dem göttlichen Willen, der göttlichen Liebe, ist. Das Böse hingegen
definiert sich nur durch die Negation des Guten. Deshalb besteht die negierende („negative“) Seite
der Dualität immer aus zwei Einseitigkeiten, dem Zuviel und dem Zuwenig.
Bildlich gesprochen, stehen die Aspekte der Polarität nebeneinander (sie sind gleichwertig), die
Aspekte der Dualität stehen untereinander (sie sind nicht gleichwertig, sondern gegensätzlich).
Gleichgewicht (Polarität)
|
Gebrochenes Gleichgewicht (Dualität):
Zuviel / Zuwenig
Gut
|
Böse:
Übergriffe, Übertreibung / falsche oder feige Unterlassungen
Liebe
|
Hass:
Rache, Verleumdung / Behalten von negativen Gefühlen
gottzugewandt
|
gottabgewandt:
Ego-Überhöhung / Selbst-Erniedrigung
Warum sind Gut und Böse nicht gleichwertig, es sind doch beides relative Realitäten? Weil das
Relative nicht unabhängig existiert, sondern immer eingefügt ist in das Ganze und immer einen
Bezug zum Absoluten hat. Deshalb ist es entscheidend, was wir unter „absolut“ verstehen. Im
ganzheitlichen Verständnis sehen wir das Absolute als den lebendigen Gott mit Bewusstsein und
Willen, weshalb wir hier – und nur hier – einen höheren Maßstab haben, nämlich Gottes Willen (=
Liebe, Verbundensein mit der Quelle, Einssein mit Gott und allen Teilen Gottes). Das Gute, auch
das relative Gute, steht in Resonanz mit Gottes Willen, wohingegen das Böse sich selbst abtrennt
und abspaltet so wie die symbolische Dunkelheit vom Licht.
Diese Abtrennung und Spaltung kann sehr subtil beginnen. Wie es in einer bekannten Aussage
heisst: Das Böse beginnt oft mit der Übertreibung des Guten. Das Originalzitat hierzu stammt von
der hl. Teresa von Avila (1515 – 1582): „Wen der Teufel nicht verführen kann zur Sünde, den verführt
er zur Übertreibung des Guten.“
Die Dualität sollte also, genau wie „Einheit“, nicht undifferenziert betrachtet werden: Das Böse ist
das Gegenteil des Guten, aber das Gute ist nicht einfach das Gegenteil des Bösen. Das Gute
definiert sich nicht durch sein Gegenteil, sondern durch seine Entsprechung mit der göttlichen
Ordnung. Mit anderen Worten: Das Gute kann aus sich selbst heraus existieren, das Böse
hingegen ist eine Verneinung der göttlichen Ordnung und führt als spaltende Kraft in die eine oder
die andere Form von Einseitigkeit, bis in die Extreme. Irrtum ist verfehlte Wahrheit, aber Wahrheit
ist nicht einfach ein verfehlter Irrtum. Hass ist Mangel an Liebe, aber Liebe ist nicht einfach ein
Mangel an Hass. Krieg ist Abwesenheit von Frieden, aber Friede ist nicht einfach Abwesenheit
von Krieg.
Die atheistische bzw. monistische Esoterik führt zum Trugschluss, gut und böse seien eine
„Einheit“ und könnten nur gegenseitig existieren, das heisst: Liebe könne nicht ohne Hass existieren
und ohne Hass gäbe es keine Liebe. Ohne Lüge gäbe es keine Ehrlichkeit. Ohne Dunkelheit
gäbe es kein Licht! Ohne das Böse gäbe es nichts Gutes – das ist die archetypische „luziferische“
Selbstrechtfertigung des Bösen. Die atheistische Esoterik tendiert dazu, ein Sprachrohr dieser
Weltsicht zu sein.
Das theistische Verständnis von Karma
Es gibt keinen Zufall. Bedeutet dies auch, dass es keine unschuldigen Opfer gibt? Und keine
schuldigen Täter? Keine Schuld, keine Sünde, kein Unrecht? Ist alles, was geschieht, eine
ausgleichende Gerechtigkeit? Eine weit verbreitete esoterische Ansicht besagt, wenn z.B. ein
Schänder ein Kind misshandle oder ermorde, dann entspreche dies dem „Karma“ und der
„Resonanz“ dieses Kindes. Wer heute Opfer sei, sei im letzten Leben selbst ein Täter gewesen.
Das Opfer habe sich den Täter in das eigene Leben gerufen.
Betrachten wir diese Ansicht näher. Wenn Person A der Person B etwas antut, dann bedeutet das
gemäß der obigen Logik, dass B im letzten Leben A etwas angetan hat. Aber dort fingʼs ebenfalls
nicht an, da es keine unschuldigen Opfer gibt. Also hatte vorher A der Person B etwas angetan,
weil B vorher A etwas angetan hatte, weil A vorher B etwas angetan hatte, usw. Wann hat dies
begonnen? Bei der Schöpfung? Bei „Adam und Eva“? Was hier vorliegt, ist die esoterische
Version der religiösen Prädestinationslehre.*
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* Prädestinationslehre: Glaube, dass alles, was geschieht, durch den Willen Gottes vorausbestimmt („prädestiniert“)
ist. Die religiöse Prädestinationslehre gründet in der Fehlauffassung, dass der Mensch keinen freien Willen haben
könne, weil ein freier Wille im Widerspruch zu Gottes Allmacht und Allwissenheit stehen würde. Demgegenüber betont
das theistische Verständnis, dass Gott sowohl Energie (Einheit, Nondualität) als auch Bewusstsein („Person“,
Individualität) ist. Die religiöse P. verabsolutiert einseitig letzteres („Es gibt nur Gottes Willen“), die esoterische P.
ersteres („Es gibt nur Gottes Gesetze“). Beide verkennen die entscheidende Rolle des freien Willens in der Kausalität
(Karma) und vertreten einen pseudoreligiösen bzw. pseudoesoterischen Determinismus.
Irgend etwas stimmt an dieser Logik nicht. Der Hauptfehler ist, dass Karma mit Prädestination
gleichgesetzt wird, was eine Halbwahrheit ist, denn Prädestination ist nur die eine Hälfte des
Karma-Gesetzes, des Gesetzes von Ursache und Wirkung (Kausalität). Prädestination ist die eine
Seite des Karma, der freie Wille die andere. Kausalität (Karma) bedeutet die Abfolge von Ursache
und Wirkung gemäß dem Prinzip von Aktion und Reaktion. Was immer wir tun (Aktion), erzeugt
eine Reaktion. Die Reaktion ist prädestiniert, aber was wir in der jeweiligen prädestinierten
Situation tun, entscheiden wir mit unserem freien Willen. Das heisst: In der Reaktion wirkt die
Prädestination, in der Aktion der freie Wille.
Betrachten wir obiges Beispiel: Selbst wenn B der Person A etwas angetan hat und A im nächsten
Leben gemäß Prädestination in die Situation kommt, B etwas Ähnliches anzutun, hat A auch einen
freien Willen und damit Verantwortung. (Deswegen gehört es auch zu unserer Verantwortung,
inwieweit wir uns unseren freien Willen bewahren.) B hat A etwas angetan, und so begegnen sich
die beiden wieder, und B ist dieses Mal vielleicht ein wehrloses Mädchen und A ein erwachsener
Mann. Durch die Resonanz der Kausalität verspürt A den Impuls, dem Mädchen etwas anzutun,
aber gleichzeitig spürt A auch das eigene Gewissen und die innere Stimme, die rufen: „Tu das
nicht!“ Wir wissen, dass Gewalt, Betrug, Mord usw. verboten, kriminell und „nicht gut“ sind.
Prädestiniert ist immer nur die Situation, aber die Prädestination zwingt uns nicht zu einer
bestimmten Handlung, weil immer auch der freie Wille vorhanden ist. Karma bedeutet also nicht
ein „prädestiniertes Handeln“. Es gibt sehr wohl Unrecht, auch „objektiv“. Nicht alles entspricht
dem „Dein Wille geschehe“.
Entscheidet sich A, B etwas anzutun, wird A zu einem Täter. Die beiden sind dann nicht etwa quitt,
sondern die Situation hat sich verkompliziert, weil es jetzt zwei Schuldige (zwei Täter) und zwei
Opfer gibt. Die Kettenreaktion von Täter und Opfer geht so lange weiter, bis die beteiligten
Personen freiwillig aus dem Teufelskreis von Schlagen und Zurückschlagen aussteigen und als
Opfer das Geschehene verzeihen und loslassen bzw. als Täter das Geschehene bereuen und
wiedergutmachen. Dies meinte Jesus, als er sagte: „Wenn dich einer auf die Wange schlägt, dann
halte auch die andere hin“ (Lk 6,29), und „Liebt eure Feinde und betet für sie“ (Mt 5,44).
Auflösung von Karma-Ketten
Es stimmt: Es gibt keine Zufälle. Alles, was geschieht, hat eine Ursache, und die Hauptursache ist
letztlich der freie Wille. Wir haben immer die Möglichkeit, die Weichen neu zu stellen. Das Leben
und der freie Wille finden immer in der Gegenwart statt. Wir können jederzeit neue Karma-Ketten
beginnen und auch alte Karma-Ketten auflösen.
Wenn Menschen, die zu Opfern wurden, ihre Karma-Ketten auflösen wollen, müssen sie ihre
Opferhaltung aufgeben, das Trauma heilen und dem Täter oder den Tätern verzeihen. Wenn sie in
eine Opferhaltung fielen oder wenn sie Rachegefühle entwickelten, ist es notwendig, dass sie sich
auch selbst verzeihen. Opfer, die diese Schritte nicht tun, werden früher oder später selbst zu
Tätern.
Wenn ein Täter seine Karma-Ketten auflösen will, muss er seine Schuld erkennen, seine Tat
bereuen und das Unrecht wiedergutmachen. Und ebenso ist es auch für ihn notwendig, sich selbst
zu verzeihen.
Wer immer diese Schritte tut, hat für sich die entsprechende Karma-Kettenreaktion aufgelöst,
selbst wenn die anderen Beteiligten diese Schritte nicht tun. Die „Verbliebenen“ werden gemäß
den geistigen Gesetzen dann in Situationen geraten, in denen sie mit den gleichen Lektionen
konfrontiert werden und anderen Personen begegnen, die ihre Schritte zur Auflösung der Karma-
Reaktionen ebenfalls noch nicht getan haben. Dies hat nichts mit einem strafenden Gott zu tun,
sondern mit dem Gesetz der Polarität und des Ausgleichs.
All die Karma-Halbwahrheiten, die besagen, es gebe kein Unrecht und keine Schuld, Gut und
Böse seien untrennbar verbunden und gegenseitig abhängig und so weiter, behalten die
Menschen in der Spaltung und Dunkelheit – auch wenn diese Dunkelheit für „Licht“ und
„Erleuchtung“ gehalten wird –, weil sie das Auflösen der Karma-Ketten verhindern. Denn wenn
jemand dies glaubt, wie will er dann seine Schuld erkennen, Reue empfinden und einsehen, dass
das, was er getan hat, ein Unrecht war und eine Wiedergutmachung erfordert?
Opfer, Täter und Tat
In Weiterführung der Erkenntnis, dass Irrtum verfehlte Wahrheit, aber Wahrheit nicht einfach
verfehlter Irrtum ist, können wir auch sagen: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Aber nicht
jeder ist seines eigenen Unglücks Schmied! Jede Karma-Kettenreaktion hat einen Anfang, der von
einer Person gesetzt wird, die eine entsprechende Tat ausführt und andere Menschen zu Opfern
macht, d.h. einen Übergriff ausführt. Hier stellt sich die Frage: Entspricht es nicht der Resonanz
dieser Menschen, dass gerade sie zu Opfern werden?
Diese Frage ist berechtigt, sollte aber nicht von der Schuld des Täters ablenken, und die Antwort
lautet: „Urteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet. Denn euer Urteil wird auf euch zurückfallen“
(Mt 7,1–2). Niemandem steht es zu, über andere Menschen zu urteilen und zu sagen: „Das ist
deine Resonanz, das ist dein Karma, diese Realität hast du dir selbst geschaffen.“ Denn wir
können nie genau wissen, warum jemand Gewalt, Unrecht usw. erfährt. Vielleicht ist es das
Ergebnis einer nicht abgeschlossenen Karma-Kette. Vielleicht ist es deshalb, weil jemand eine
neue Karma-Kette beginnt. Vielleicht ist es deshalb, weil jemand sich zur Verfügung stellte, damit
die Täter durch ihre Tat zur Besinnung kommen können. Diese Vielleicht-Fragen sind nicht das
Entscheidende. Die wirklich wichtige Frage lautet: „Was tue ich, was tun wir in der JETZT
gegebenen Situation?“
Wenn es zu einer Situation mit Tätern und Opfern kommt und wir zu denjenigen gehören, die
Unrecht erfahren, sind wir zwar „Opfer“, aber wir brauchen deswegen nicht in ein
Opferbewusstsein und in eine Opferhaltung zu fallen. Denn jede Situation hat einen höheren Sinn
und einen Aspekt, der uns etwas lehren will. Dies können wir jedoch immer nur auf uns selbst
anwenden: Was will diese Situation mir zeigen? Was habe ich hier zu lernen?
Alles hat einen Sinn. Aber diesen Sinn können wir immer nur für uns selbst erkennen. Wir können
aus allen Situationen lernen, auch aus der Konfrontation mit dem Bösen. Aber das heisst nicht,
dass das Böse deshalb nicht mehr böse ist. Der vielzitierte Goethe-Spruch „Ich bin die Kraft, die
stets das Böse will und doch das Gute schafft“, ist kein Wort Gottes, sondern ein Spruch des
Mephisto und bringt die luziferische Selbstrechtfertigung zum Ausdruck.
Das Böse hat noch nie etwas Gutes geschaffen, so wie Dunkelheit noch nie Licht hervorgebracht
hat. Es sind einzelne Menschen, die für sich in einer Situation des Bösen das Gute, d.h. den
göttlichen Sinn, erkennen. Dieses Gute wurde aber nicht vom Bösen geschaffen, sondern von
jenen Menschen, die sich vom Bösen nicht beeinflussen und brechen ließen. Und das war nur
möglich durch ihre innere Verbindung mit dem absoluten Bewusstsein Gottes, das sowohl Liebe
als auch Gnade umfasst.
Mit anderen Worten, das Universum ist nicht einfach eine gottlose Einheit von Energie ohne
inhärente Intention, wie in den Weltbildern des Materialismus und Monismus geglaubt wird
(„Selbstorganisation des Universums“). Hinter allem, im Relativen wie im Absoluten, wirkt Bewusstsein
als Hauptfaktor der Kausalität – und deshalb auch in der Polarität und in der Dualität.
Was in dieser Formulierung „theoretisch“ klingt, hat in der praktischen Übersetzung äußerst
konkrete und aktuelle Bezüge. Denn wie eingangs erwähnt: Der Bewusstseinswandel, der heute
auf allen Ebenen notwendig geworden ist, kann nur geschehen, wenn die Menschen die
vorherrschenden Spaltungen und Einseitigkeiten als solche erkennen und durch ein neues,
spirituelles Unterscheidungsvermögen überwinden.
www.armin-risi.ch
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