24.06.2012, 11:41
Vedische Kosmogonie
„Am Anfang war das Nichts, weder Zeit noch Raum, weder Sterne
noch Planeten, weder Gestein noch Pflanzen, Tiere und Menschen.
Alles entstand aus dem Nichts, zuerst ein sehr heißes Plasma aus
Quarks, Elektronen und anderen Teilchen, zusammen mit Raum und
Zeit. Schnell kühlte dieses Plasma ab; es bildeten sich Protonen,
Neutronen, Atomkerne, Atome, Sterne, Galaxien und Planeten.
Schließlich entstand das Leben in vielen Sonnensystemen des Alls,
darunter auch auf einem Planeten eines ganz gewöhnlichen Sterns
in einem der Spiralarme einer Galaxie, die sich zufällig am Rande
einer großen Ansammlung von Galaxien befand. Aus einfachsten
Organismen entwickelten sich dort im Laufe von vier Milliarden Jahren
Pflanzen und Tiere und schließlich der Mensch."
So beginnt ein Standardwerk der modernen Physik und Kosmologie
mit dem Titel Vom Urknall zum Zerfall. Dieses Szenario entspricht
der heute allgemein akzeptierten Ansicht über die Entstehung
des Universums, der Erde und des Menschen. In Detailfragen
mögen die Meinungen einzelner Wissenschaftler auseinander gehen,
doch kaum jemand zweifelt daran, dass die Entwicklung des Universums
im großen und ganzen tatsächlich von den genannten Faktoren
bestimmt wurde: Urknall, Zufall und dann Evolution des Lebens
aus der Materie.
Außer ein paar unverbindlichen Relativierungen kennt diese herrschende
Lehrmeinung kein anderes selbständiges Konzept der
Kosmologie. Die einzige andere Darstellung, die überhaupt bekannt
ist, stammt aus dem Lager der christlichen Kreationisten. Diese
„Schöpfungsgläubigen" (vom last. creatio, „Schöpfung") berufen sich
auf den Schöpfungsbericht (Genesis) des Alten Testaments und meinen,
dieser besage, es gebe nur ein einziges Universum und Gott
habe dieses Universum vor nicht allzu langer Zeit innerhalb von sechs
Tagen erschaffen. („Und am siebten Tage ruhte er sich aus."11)
Wichtig hierbei ist zu wissen, dass beide Ansichten auf Glauben
beruhen. Die Wissenschaftler glauben, dass ihre Beobachtungen des
Universums der Realität entsprechen, dass es keine höheren, unsichtbaren
Dimensionen gibt und dass die auf der Erde bekannten Gesetze
der Physik im ganzen Universum gelten. Keiner von diesen drei
Glaubenspunkten ist bewiesen.
Die Kreationisten glauben, dass ihre Interpretation der Bibel die
richtige sei, dass im Alten Testament tatsächlich „Gott" spreche und
dass Gott sich nur im Nahen Osten (im biblischen Palästina) offenbare
und nicht auch im Fernen Osten (z.B. in Indien). Keiner von
diesen drei Glaubenspunkten ist bewiesen.
Natürlich gibt es zwischen diesen beiden Standpunkten auch zahllose
Zwischenstufen. Einige Theorien sprechen von einer theistischen
Evolution, demzufolge „Gott" einfach den Urknall gezündet
habe, um es danach der Materie zu überlassen, Leben zu erzeugen.
Andere sagen, die Materie oder die Natur sei Gott, weshalb die Materie
durch die ihr innewohnenden Kräfte zu einer Selbstorganisation
fähig sei; und wieder andere sagen, Gott sei der Schöpfer, der Leben
aus der Materie entstehen lasse (weshalb es keine ewige Seele und
keine Reinkarnation geben könne).
Die Schattierungen dieser Zwischenstufen sind vielfältig, aber das
ändert nichts an der Tatsache, dass sich all diese Theorien immer nur
um die genannten zwei Standpunkte drehen, die letztlich beide einseitig
und beschränkt sind.
Am Anfang war... was?
Der Mensch scheint heute auf die Frage nach seiner Her- und Zukunft
grundsätzlich nur zwei Antwortmöglichkeiten zu kennen: die
wissenschaftliche Kosmologie, in der Gott ein vernachlässigbarer
Faktor ist, oder die biblische Genesis, die mangels detaillierter oder
mangels entschlüsselter Erklärungen nur geringe Informationen vermittelt
(sie umfasst nur eine einzige Buchseite).
Allerdings gibt es auch noch eine dritte Antwortmöglichkeit, die
Gleichgültigkeit. Es sagen nämlich viele Zeitgenossen: „Keine Zeit
für solche Fragen! Der liebe Gott oder der Urknall, Schöpfung oder
Evolution, was ändert's? Deshalb muss ich meine Steuern und Schulden
immer noch selbst bezahlen."
Obwohl die letzteren, die Zeit-Genossen, heute eine überwältigende
Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, lässt sich die Wichtigkeit
der Frage nach dem „Anfang" nicht leugnen, denn wie immer die
Antwort ausfällt, die Konsequenzen sind fundamental. Die aktuelle
Weltlage ist ja nichts anderes als die Konsequenz der dritten Möglichkeit,
der Gleichgültigkeit, ihrerseits Konsequenz eines gottlosen
Alltags in einem scheinbar gott-losen Weltall.
Die Erforschung des Anfangs von All und Erde scheint sich auf die
Evolutionsthese und die Genesis als Antithese zu beschränken. Sogar
die kühnsten Forscher, die aufgrund alter Mythen und „Götterspuren"
zur Ansicht gelangen, die Evolution des primitiven Urmenschen sei in
grauer Vorzeit durch Außerirdische genetisch manipuliert worden,
glauben offensichtlich an die materialistische Evolutionstheorie. Diese
„präastronautische" Hypothese ist keine Synthese, denn sie geht
ebenfalls davon aus, dass alle Menschen früher primitiv waren und
von den Tieren abstammen und diese von der organischen Materie.
Gibt es also nur die These der Evolution und die Antithese der
biblischen Genesis? Der Streit zwischen den Evolutionisten und
Kreationisten erweckt diesen Eindruck, lenkt dabei aber von einer
wichtigen Frage ab: Was ist mit den Schöpfungsberichten anderer
Kulturen? In deren Licht könnte vielleicht auch die Genesis des Alten
Testaments besser verstanden werden.
Wenn man die heute zahlreich verfügbaren Lexika über Schöpfungsmythen
zu Rate zieht, ist man eher ernüchtert als erleuchtet
angesichts der Vielzahl von Völkern mit ihrer Unzahl von Göttern.
Im Gegensatz zu dieser oberflächlichen Vermischung der „Mythen"
möchte ich im vorliegenden Buch die „indische" Gottesoffenbarung
(Veba) herausgreifen und als dritte Antwortmöglichkeit in die
Diskussion einbringen; dabei wird schnell erkennbar, dass die vedische
Genesis eine Sonderstellung einnimmt, denn sie ist nicht einfach
nur eine weitere Antithese, sondern kann als Synthese aufgefasst
werden, gründet sie doch - nach eigener Aussage - im ursprünglichen
universalen Wissen, das die Menschen von Gott und den Göttern
erhalten haben.
Die vedische Genesis erschließt eine theistische Sicht des Universums
und interpretiert auf verblüffende Weise auch die Erkenntnisse
der modernen Kosmologie. Was die Naturwissenschaften über den
Kosmos sagen, ist im Kern gar nicht so unreligiös, wie viele religiöse
Fundamentalisten glauben. Und die indische „Mythologie" wiederum
ist gar nicht so unwissenschaftlich, wie viele Wissenschaftler
glauben.
Im folgenden wird die ursprüngliche Genesis, wie sie von den
Veda-Quellen beschrieben wird, in Form einer Aufschlüsselung
zusammengefasst. Doch selbst in dieser Form bleibt die vedische
Genesis eine Herausforderung an das mythische und logische Fassungsvermögen
des Menschen. Kapitel 2 ist wahrscheinlich ein Kapitel,
das man sowieso zweimal lesen muss.
Fürs erste gilt die beruhigende Regel: Bei vedischen Texten kann
man weiterleben, selbst wenn man nicht alles versteht, denn das
Folgende klärt das Vorangegangene.