04.09.2012, 13:42
Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?
Innere Ruhe
Auf den Pfad der Verehrung und auf die Entwicklung des
inneren Lebens wird der Geheimschüler im Anfange seiner
Laufbahn gewiesen. Die Geisteswissenschaft gibt nun auch
praktische Regeln an die Hand, durch deren Beobachtung der
Pfad betreten, das innere Leben entwickelt werden kann. Diese
praktischen Regeln entstammen nicht der Willkür. Sie beruhen
auf uralten Erfahrungen und uraltem Wissen. Sie werden
überall in der gleichen Art gegeben, wo die Wege zur höheren
Erkenntnis gewiesen werden. Alle wahren Lehrer des geistigen
Lebens stimmen in bezug auf den Inhalt dieser Regeln überein,
wenn sie dieselben auch nicht immer in die gleichen Worte
kleiden. Die untergeordnete, eigentlich nur scheinbare
Verschiedenheit rührt von Tatsachen her, welche hier nicht zu
besprechen sind.
Kein Lehrer des Geisteslebens will durch solche Regeln eine
Herrschaft über andere Menschen ausüben. Er will niemand in
seiner Selbständigkeit beeinträchtigen. Denn es gibt keine
besseren Schätzer und Hüter der menschlichen Selbständigkeit
als die Geheimforscher. Es ist (im ersten Teile in dieser Schrift)
gesagt worden, das Band, das alle Eingeweihten umfasst, sei ein
geistiges, und zwei naturgemäße Gesetze bilden die Klammern,
welche die Bestandteile dieses Bandes zusammenhalten. Tritt
nun der Eingeweihte aus seinem umschlossenen Geistgebiet
heraus, vor die Öffentlichkeit: dann kommt für ihn sogleich ein
drittes Gesetz in Betracht Es ist dieses: Richte jede deiner Taten,
jedes deiner Worte so ein, dass durch dich in keines Menschen
freien Willensentschluss eingegriffen wird.
Wer durchschaut hat, dass ein wahrer Lehrer des Geisteslebens
ganz von dieser Gesinnung durchdrungen ist, der kann auch
wissen, dass er nichts von seiner Selbständigkeit einbüßt, wenn
er den praktischen Regeln folgt, die ihm geboten werden.
Eine der ersten dieser Regeln kann nun etwa in die folgenden
Worte der Sprache gekleidet werden: «Schaffe dir Augenblicke
innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das
Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden.» - Es
wird hier gesagt, diese praktische Regel laute so in «Worte der
Sprache gefasst». Ursprünglich werden nämlich alle Regeln und
Lehren der Geisteswissenschaft in einer sinnbildlichen
Zeichensprache gegeben. Und wer ihre ganze Bedeutung und
Tragweite kennenlernen will, der muss erst diese sinnbildliche
Sprache sich zum Verständnis bringen. Dieses Verständnis ist
davon abhängig, dass der Betreffende bereits die ersten Schritte
in der Geheimwissenschaft getan hat. Diese Schritte aber kann
er durch die genaue Beobachtung solcher Regeln gehen, wie sie
hier gegeben werden. Jedem steht der Weg offen, der
ernstliches Wollen hat.
Einfach ist die obige Regel bezüglich der Augenblicke der
inneren Ruhe. Und einfach ist auch ihre Befolgung. Aber zum
Ziele führt sie nur, wenn sie ebenso ernst und streng angefasst
wird, wie sie einfach ist - ohne Umschweife soll daher hier auch
gesagt werden, wie diese Regel zu befolgen ist.
Der Geheimschüler hat sich eine kurze Zeit von seinem
täglichen Leben auszusondern, um sich in dieser Zeit mit etwas
ganz anderem zu befassen, als die Gegenstände seiner täglichen
Beschäftigung sind. Und auch die Art seiner Beschäftigung muss
eine ganz andere sein als diejenige, mit der er den übrigen Tag
ausfüllt das ist aber nicht so zu verstehen, als ob dasjenige, was
er in dieser ausgesonderten Zeit vollbringt, nichts zu tun habe
mit dem Inhalt seiner täglichen Arbeit im Gegenteil: der
Mensch, der solche abgesonderten Augenblicke in der rechten
Art sucht, wird bald bemerken, dass er durch sie erst die volle
Kraft zu seiner Tagesaufgabe erhält. Auch darf nicht geglaubt
werden, dass die Beobachtung dieser Regel jemandem wirklich
Zeit von seiner Pflichtenleistung entziehen könne. Wenn
jemand wirklich nicht mehr Zeit zur Verfügung haben sollte, so
genügen fünf Minuten jeden Tag. Es kommt darauf an, wie diese
fünf Minuten angewendet werden.
In dieser Zeit soll der Mensch sich vollständig herausreißen aus
seinem Alltagsleben. Sein Gedanken-, sein Gefühlsleben soll da
eine andere Färbung erhalten, als sie sonst haben. Er soll seine
Freuden, seine Leiden, seine Sorgen, seine Erfahrungen, seine
Taten vor seiner Seele vorbeiziehen lassen. Und er soll sich
dabei so stellen, dass er alles das, was er sonst erlebt, von einem
höheren Gesichtspunkte aus ansieht man denke nur einmal
daran, wie man im gewöhnlichen Leben etwas ganz anders
ansieht, was ein anderer erlebt oder getan hat, als was man
selbst erlebt oder getan hat das kann nicht anders sein. Denn
mit dem, was man selbst erlebt oder tut, ist man verwoben; das
Erlebnis oder die Tat eines anderen betrachtet man nur. Was
man in den ausgesonderten Augenblicken anzustreben hat, ist
nun, die eigenen Erlebnisse und Taten so anzuschauen, so zu
beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern als ob sie ein
anderer erlebt oder getan hätte. Man stelle sich einmal vor:
jemand habe einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Wie
anders steht er dem gegenüber als einem ganz gleichen
Schicksalsschläge bei seinem Mitmenschen? Niemand kann das
für unberechtigt halten. Es liegt in der menschlichen Natur.
Und ähnlich wie in solchen außergewöhnlichen Fällen ist es in
den alltäglichen Angelegenheiten des Lebens. Der
Geheimschüler muss die Kraft suchen, sich selbst in gewissen
Zeiten wie ein Fremder gegenüberzustehen. Mit der inneren
Ruhe des Beurteilers muss er sich selbst entgegentreten.
Erreicht man das, dann zeigen sich einem die eigenen Erlebnisse
in einem neuen Lichte. Solange man in sie verwoben ist, solange
man in ihnen steht, hängt man mit dem Unwesentlichen ebenso
zusammen wie mit dem Wesentlichen. Kommt man zur inneren
Ruhe des Überblicks, dann sondert sich das Wesentliche von
dem Unwesentlichen. Kummer und Freude, jeder Gedanke,
jeder Entschluss erscheinen anders, wenn man sich so selbst
gegenübersteht - Es ist, wie wenn man den ganzen Tag
hindurch in einem Orte sich aufgehalten hat und das Kleinste
ebenso nahe gesehen hat wie das Größte; dann des Abends auf
einen benachbarten Hügel steigt und den ganzen Ort auf einmal
überschaut da erscheinen die Teile dieses Ortes in anderen
gegenseitigen Verhältnissen, als wenn man darinnen ist mit
gegenwärtig erlebten Schicksalsfügungen wird und braucht dies
nicht zu gelingen; mit länger vergangenen muss es vom Schüler
des Geisteslebens erstrebt werden. - Der Wert solcher inneren,
ruhigen Selbstschau hängt viel weniger davon ab, was man
dabei erschaut, als vielmehr davon, dass man in sich die Kraft
findet, die solche innere Ruhe entwickelt.
Denn jeder Mensch trägt neben seinem - wir wollen ihn so
nennen - Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen
höheren Menschen. Dieser höhere Mensch bleibt so lange
verborgen, bis er geweckt wird. Und jeder kann diesen höheren
Menschen nur selbst in sich erwecken. Solange aber dieser
höhere Mensch nicht erweckt ist, so lange bleiben auch die in
jedem Menschen schlummernden höheren Fähigkeiten
verborgen, die zu übersinnlichen Erkenntnissen führen. Solange
jemand die Frucht der inneren Ruhe nicht fühlt, muss er sich
eben sagen, dass er in der ernsten strengen Befolgung der
angeführten Regel fortfahren muss. Für jeden, der so verfährt,
kommt der Tag, wo es um ihn herum geistig hell wird, wo sich
einem Auge, das er bis dahin in sich nicht gekannt hat, eine
ganz neue Welt erschließen wird.
Und nichts braucht sich im äußeren Leben des Geheimschülers
zu ändern dadurch, dass er anfängt, diese Regel zu befolgen. Er
geht seinen Pflichten nach wie vorher; er duldet dieselben
Leiden und erlebt dieselben Freuden zunächst wie vorher. In
keiner Weise kann er dadurch dem «Leben» entfremdet werden.
Ja, er kann umso voller den übrigen Tag hindurch diesem
«Leben» nachgehen, weil er in seinen ausgesonderten
Augenblicken ein «höheres Leben» sich aneignet. Nach und
nach wird dieses «höhere Leben» schon seinen Einfluss auf das
gewöhnliche geltend machen. Die Ruhe der ausgesonderten
Augenblicke wird ihre Wirkung auch auf den Alltag haben. Der
ganze Mensch wird ruhiger werden, wird Sicherheit bei all
seinen Handlungen gewinnen, wird nicht mehr aus der Fassung
gebracht werden können durch alle möglichen Zwischenfälle.
Allmählich wird sich solch angehender Geheimschüler
sozusagen immer mehr selbst leiten und weniger von den
Umständen und äußeren Einflüssen leiten lassen. Ein solcher
Mensch wird bald bemerken, was für eine Kraftquelle solche
ausgesonderte Zeitabschnitte für ihn sind. Er wird anfangen,
sich über Dinge nicht mehr zu ärgern, über die er sich vorher
geärgert hat; unzählige Dinge, die er vorher gefürchtet hat,
hören auf, ihm Befürchtungen zu machen. Eine ganz neue
Lebensauffassung eignet er sich an. Vorher ging er vielleicht
zaghaft an diese oder jene Verrichtung. Er sagte sich: Oh, meine
Kraft reicht nicht aus, dies so zu machen, wie ich es gerne
gemacht hätte. Jetzt kommt ihm nicht mehr dieser Gedanke,
sondern vielmehr ein ganz anderer. Nunmehr sagt er sich
nämlich: Ich will alle Kraft zusammennehmen, um meine Sache
so gut zu machen, als ich nur irgend kann. Und den Gedanken,
der ihn zaghaft machen könnte, unterdrückt er. Denn er weiß,
dass ihn eben die Zaghaftigkeit zu einer schlechten Leistung
veranlassen könnte, dass jedenfalls diese Zaghaftigkeit nichts
beitragen kann zur Verbesserung dessen, was ihm obliegt. Und
so ziehen Gedanke nach Gedanke in die Lebensauffassung des
Geheimschülers ein, die fruchtbar, förderlich sind für sein
Leben. Sie treten an die Stelle von solchen, die ihm hinderlich,
schwächend waren. Er fängt an, sein Lebensschiff einen
sicheren, festen Gang zu führen innerhalb der Wogen des
Lebens, während es vorher von diesen Wogen hin und her
geschlagen worden ist.
Und solche Ruhe und Sicherheit wirken auch auf das ganze
menschliche Wesen zurück. Der innere Mensch wächst
dadurch. Und mit ihm wachsen jene inneren Fähigkeiten,
welche zu den höheren Erkenntnissen führen. Denn durch
seine in dieser Richtung gemachten Fortschritte gelangt der
Geheimschüler allmählich dahin, dass er selbst bestimmt, wie
die Eindrücke der Außenwelt auf ihn einwirken dürfen. Er hört
zum Beispiel ein Wort, durch das ein anderer ihn verletzen oder
ärgern will. Vor seiner Geheimschülerschaft wäre er auch
verletzt worden oder hätte sich geärgert da er nun den Pfad der
Geheimschülerschaft betreten hat, ist er imstande, dem Worte
seinen verletzenden oder ärgerlichen Stachel zu nehmen, bevor
es den Weg zu seinem Innern gefunden hat. Oder ein anderes
Beispiel.
Ein Mensch wird leicht ungeduldig, wenn er warten
soll. Er betritt den Pfad des Geheimschülers. Er durchdringt sich
in seinen Augenblicken der Ruhe so sehr mit dem Gefühl von
der Zwecklosigkeit vieler Ungeduld, dass er fortan bei jeder
erlebten Ungeduld sofort dieses Gefühl gegenwärtig hat. Die
Ungeduld, die sich schon einstellen wollte, verschwindet, und
eine Zeit, die sonst verloren gegangen wäre unter den
Vorstellungen der Ungeduld, wird vielleicht ausgefüllt von
einer nützlichen Beobachtung, die während des Wartens
gemacht werden kann.
Nun muss man sich nur die Tragweite von alledem
vergegenwärtigen. Man bedenke, dass der «höhere Mensch» im
Menschen in fortwährender Entwicklung ist. Durch die
beschriebene Ruhe und Sicherheit wird ihm aber allein eine
gesetzmäßige Entwicklung ermöglicht die Wogen des äußeren
Lebens zwängen den inneren Menschen von allen Seiten ein,
wenn der Mensch nicht dieses Leben beherrscht, sondern von
ihm beherrscht wird. Ein solcher Mensch ist wie eine Pflanze,
die sich in einer Felsspalte entwickeln soll. Sie verkümmert so
lange, bis man ihr Raum schafft dem inneren Menschen können
keine äußeren Kräfte Raum schaffen. Das vermag nur die innere
Ruhe, die er seiner Seele schafft Äußere Verhältnisse können
nur seine äußere Lebenslage ändern; den «geistigen Menschen»
in ihm können sie nie und nimmer erwecken. - In sich selbst
muss der Geheimschüler einen neuen, einen höheren Menschen
gebären.
Dieser «höhere Mensch» wird dann der «innere Herrscher», der
mit sicherer Hand die Verhältnisse des äußeren Menschen
führt. Solange der äußere Mensch die Oberhand und Leitung
hat, ist dieser «innere» sein Sklave und kann daher seine Kräfte
nicht entfalten. Hängt es von etwas anderem als von mir ah, ob
ich mich ärgere oder nicht, so bin ich nicht Herr meiner selbst,
oder - noch besser gesagt -: ich habe den «Herrscher in mir»
noch nicht gefunden. Ich muss in mir die Fähigkeit entwickeln,
die Eindrücke der Außenwelt nur in einer durch mich selbst
bestimmten Weise an mich herankommen zu lassen; dann kann
ich erst Geheimschüler werden. - Und nur insoweit der
Geheimschüler ernstlich nach dieser Kraft sucht, kann er zum
Ziel kommen. Es kommt nicht darauf an, wie weit es einer in
einer bestimmten Zeit bringt; sondern allein darauf, dass er
ernstlich sucht. Schon manchen hat es gegeben, der jahrelang
sich angestrengt hat, ohne an sich einen merklichen Fortschritt
zu bemerken; viele von denen aber, die nicht verzweifelt,
sondern unerschütterlich geblieben sind, haben dann ganz
plötzlich den «inneren Sieg» errungen.
Es gehört gewiss in mancher Lebenslage eine große Kraft dazu,
sich Augenblicke innerer Ruhe zu schaffen. Aber je größer die
notwendige Kraft, desto bedeutender ist auch das, was erreicht
wird. Alles hängt in bezug auf die Geheimschülerschaft davon
ab, dass man energisch, mit innerer Wahrheit und rückhaltloser
Aufrichtigkeit sich selbst, mit allen seinen Handlungen und
Taten, als ein völlig Fremder gegenüberstehen kann.
Aber nur eine Seite der inneren Tätigkeit des Geheimschülers
ist durch diese Geburt des eigenen höheren Menschen
gekennzeichnet. Es muss dazu noch etwas anderes kommen.
Wenn sich nämlich der Mensch auch selbst als ein Fremder
gegenübersteht, so betrachtet er doch nur sich selbst; er sieht
auf diejenigen Erlebnisse und Handlungen, mit denen er durch
seine besondere Lebenslage verwachsen ist. Er muss darüber
hinauskommen. Er muss sich erheben zu einem rein
Menschlichen, das nichts mehr mit seiner besonderen Lage zu
tun hat. Er muss zu einer Betrachtung derjenigen Dinge
übergehen, die ihn als Mensch etwas angingen, auch wenn er
unter ganz anderen Verhältnissen, in einer ganz anderen Lage
lebte. Dadurch lebt in ihm etwas auf, was über das Persönliche
hinausragt. Er richtet damit den Blick in höhere Welten, als
diejenigen sind, mit denen ihn der Alltag zusammenführt und
damit beginnt der Mensch zu fühlen, zu erleben, dass er solchen
höheren Welten angehört. Es sind das Welten, über die ihm
seine Sinne, seine alltägliche Beschäftigung nichts sagen
können. So erst verlegt er den Mittelpunkt seines Wesens in
sein Inneres. Er hört auf die Stimmen in seinem Innern, die in
den Augenblicken der Ruhe zu ihm sprechen; er pflegt im
Innern Umgang mit der geistigen Welt. Er ist dem Alltag
entrückt der Lärm dieses Alltags ist für ihn verstummt. Es ist um
ihn herum still geworden. Er weist alles ab, was ihn an solche
Eindrücke von außen erinnert die ruhige Beschaulichkeit im
Innern, die Zwiesprache mit der rein geistigen Welt füllt seine
ganze Seele aus. - Ein natürliches Lebensbedürfnis muss dem
Geheimschüler solche stille Beschaulichkeit werden. Er ist
zunächst ganz in eine Gedanken-Welt versenkt. Er muss für
diese stille Gedankentätigkeit ein lebendiges Gefühl entwickeln.
Er muss lieben lernen, was ihm der Geist da zuströmt. Bald hört
er dann auch auf, diese Gedankenwelt als etwas zu empfinden,
was unwirklicher sei als die Dinge des Alltags, die ihn umgeben.
Er fängt an, mit seinen Gedanken umzugehen wie mit den
Dingen im Raume. Und dann naht für ihn auch der Augenblick,
in dem er das, was sich ihm in der Stille innerer Gedankenarbeit
offenbart, als viel höher, wirklicher zu fühlen beginnt als die
Dinge im Raume. Er erfährt, dass sich Leben in dieser
Gedankenwelt ausspricht. Er sieht ein, dass sich in Gedanken
nicht bloße Schattenbilder ausleben, sondern, dass durch sie
verborgene Wesenheiten zu ihm sprechen. Es fängt an, aus der
Stille heraus zu ihm zu sprechen. Vorher hat es nur durch sein
Ohr zu ihm getönt; jetzt tönt es durch seine Seele. Eine innere
Sprache - ein inneres Wort - hat sich ihm erschlossen. Beseligt
im höchsten Grade fühlt sich der Geheimschüler, wenn er
diesen Augenblick zum ersten Male erlebt. Über seine ganze
äußere Welt ergießt sich ein inneres Licht. Ein zweites Leben
beginnt für ihn. Der Strom einer göttlichen, einer
gottbeseligenden Welt ergießt sich durch ihn.
Solches Leben der Seele in Gedanken, das sich immer mehr
erweitert zu einem Leben in geistiger Wesenheit, nennt die
Gnosis, die Geisteswissenschaft Meditation (beschauliches
Nachdenken). Diese Meditation ist das Mittel zu übersinnlicher
Erkenntnis. - Aber nicht schwelgen in Gefühlen soll der
Geheimschüler in solchen Augenblicken. Er soll nicht
unbestimmte Empfindungen in seiner Seele haben. Das würde
ihn nur hindern, zu wahrer geistiger Erkenntnis zu kommen.
Klar, scharf, bestimmt sollen sich seine Gedanken gestalten.
Dazu wird er einen Anhalt finden, wenn er sich nicht blind an
die Gedanken hält, die ihm aufsteigen. Er soll sich vielmehr mit
den hohen Gedanken durchdringen, welche vorgeschrittene,
schon vom Geist erfasste Menschen in solchen Augenblicken
gedacht haben. Er soll zum Ausgangspunkte die Schriften
nehmen, die selbst solcher Offenbarung in der Meditation
entsprossen sind. In der mystischen, in der gnostischen, in der
geisteswissenschaftlichen Literatur von heute findet der
Geheimschüler solche Schriften. Da ergeben sich ihm die Stoffe
zu seiner Meditation. Die Geistsucher haben selbst in solchen
Schriften die Gedanken der göttlichen Wissenschaft
niedergelegt; der Geist hat durch seine Boten sie der Welt
verkündigen lassen.
Durch solche Meditation geht eine völlige Verwandlung mit
dem Geheimschüler vor. Er fängt an, über die Wirklichkeit ganz
neue Vorstellungen sich zu bilden. Alle Dinge erhalten für ihn
einen anderen Wert. Immer wieder muss es gesagt werden:
nicht weltfremd wird der Geheimschüler durch solche
Wandlung. Er wird auf keinen Fall seinem alltäglichen
Pflichtenkreis entfremdet. Denn er lernt einsehen, dass die
geringste Handlung, die er zu vollbringen hat, das geringste
Erlebnis, das sich ihm darbietet, im Zusammenhang stehen mit
den großen Weltwesenheiten und Weltereignissen. Wird ihm
dieser Zusammenhang durch seine beschaulichen Augenblicke
erst klar, dann geht er mit neuer vollerer Kraft an seinen
täglichen Wirkungskreis. Denn jetzt weiß er: was er arbeitet,
was er leidet, das arbeitet, leidet er um eines großen, geistigen
Weltzusammenhanges willen. Kraft zum Leben, nicht Lässigkeit
quillt aus der Meditation.
Mit sicherem Schritt geht der Geheimschüler durch das Leben.
Was es ihm auch bringen mag, lässt ihn aufrecht schreiten.
Vorher hat er nicht gewusst, warum er arbeitet, warum er
leidet: jetzt weiß er dies. Einzusehen ist, dass solche
Meditationstätigkeit besser zum Ziele führt, wenn sie unter
Anleitung erfahrener Menschen geschieht. Solchen Menschen,
die von sich aus wissen, wie alles am besten zu machen ist. Man
sehe daher den Rat, die Anweisung solcher Menschen sich an.
Man verliert dadurch wahrlich nicht seine Freiheit. Was sonst
nur unsicheres Tappen sein kann, wird durch solche Anleitung
zum zielsicheren Arbeiten. Wer sich um solche kümmert, die in
dieser Richtung Wissen, Erfahrung haben, wird niemals
vergeblich anklopfen. Er sei sich nur bewusst, dass er nichts
anderes sucht als den Rat eines Freundes, nicht die Übermacht
eines solchen, der herrschen will. Man wird immer finden, dass
diejenigen, die wirklich wissen, die bescheidensten Menschen
sind, und dass ihnen nichts ferner liegt als dasjenige, was die
Menschen Machtgelüste nennen.
Wer sich durch die Meditation erhebt zu dem, was den
Menschen mit dem Geist verbindet, der beginnt in sich das zu
beleben, was ewig in ihm ist, was nicht durch Geburt und Tod
begrenzt ist. Nur diejenigen können zweifeln an einem solchen
Ewigen, die es nicht selbst erlebt haben. So ist die Meditation
der Weg, der den Menschen auch zur Erkenntnis, zur
Anschauung seines ewigen, unzerstörbaren Wesenskernes führt
und nur durch sie kann der Mensch zu solcher Anschauung
kommen. Gnosis, Geisteswissenschaft sprechen von der
Ewigkeit dieses Wesenskernes, von der Wiederverkörperung
desselben. Oft wird gefragt, warum weiß der Mensch nichts von
seinen Erlebnissen, die jenseits von Geburt und Tod liegen?
Aber nicht so sollte gefragt werden. Sondern vielmehr so: wie
gelangt man zu solchem Wissen? In der richtigen Meditation
eröffnet sich der Weg. Durch sie lebt die Erinnerung auf an
Erlebnisse, die jenseits von Geburt und Tod liegen. Jeder kann
dieses Wissen erwerben; in jedem liegen die Fähigkeiten, selbst
zu erkennen, selbst zu schauen, was echte Mystik,
Geisteswissenschaft, Anthroposophie und Gnosis lehren. Er
muss nur die richtigen Mittel wählen. Nur ein Wesen, das
Ohren und Augen hat, kann Töne und Farben wahrnehmen.
Und auch das Auge kann nichts wahrnehmen, wenn das Licht
fehlt, das die Dinge sichtbar macht In der Geheimwissenschaft
sind die Mittel gegeben, die geistigen Ohren und Augen zu
entwickeln und das geistige Licht zu entzünden. Als drei Stufen
können die Mittel der geistigen Schulung bezeichnet werden:
1. Die Vorbereitung. Sie entwickelt die geistigen Sinne.
2. Die Erleuchtung. Sie zündet das geistige Licht an.
3. Die Einweihung. Sie eröffnet den Verkehr mit den höheren
Wesenheiten des Geistes.
Rudolf Steiner
Buch: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?
Innere Ruhe
Auf den Pfad der Verehrung und auf die Entwicklung des
inneren Lebens wird der Geheimschüler im Anfange seiner
Laufbahn gewiesen. Die Geisteswissenschaft gibt nun auch
praktische Regeln an die Hand, durch deren Beobachtung der
Pfad betreten, das innere Leben entwickelt werden kann. Diese
praktischen Regeln entstammen nicht der Willkür. Sie beruhen
auf uralten Erfahrungen und uraltem Wissen. Sie werden
überall in der gleichen Art gegeben, wo die Wege zur höheren
Erkenntnis gewiesen werden. Alle wahren Lehrer des geistigen
Lebens stimmen in bezug auf den Inhalt dieser Regeln überein,
wenn sie dieselben auch nicht immer in die gleichen Worte
kleiden. Die untergeordnete, eigentlich nur scheinbare
Verschiedenheit rührt von Tatsachen her, welche hier nicht zu
besprechen sind.
Kein Lehrer des Geisteslebens will durch solche Regeln eine
Herrschaft über andere Menschen ausüben. Er will niemand in
seiner Selbständigkeit beeinträchtigen. Denn es gibt keine
besseren Schätzer und Hüter der menschlichen Selbständigkeit
als die Geheimforscher. Es ist (im ersten Teile in dieser Schrift)
gesagt worden, das Band, das alle Eingeweihten umfasst, sei ein
geistiges, und zwei naturgemäße Gesetze bilden die Klammern,
welche die Bestandteile dieses Bandes zusammenhalten. Tritt
nun der Eingeweihte aus seinem umschlossenen Geistgebiet
heraus, vor die Öffentlichkeit: dann kommt für ihn sogleich ein
drittes Gesetz in Betracht Es ist dieses: Richte jede deiner Taten,
jedes deiner Worte so ein, dass durch dich in keines Menschen
freien Willensentschluss eingegriffen wird.
Wer durchschaut hat, dass ein wahrer Lehrer des Geisteslebens
ganz von dieser Gesinnung durchdrungen ist, der kann auch
wissen, dass er nichts von seiner Selbständigkeit einbüßt, wenn
er den praktischen Regeln folgt, die ihm geboten werden.
Eine der ersten dieser Regeln kann nun etwa in die folgenden
Worte der Sprache gekleidet werden: «Schaffe dir Augenblicke
innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das
Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden.» - Es
wird hier gesagt, diese praktische Regel laute so in «Worte der
Sprache gefasst». Ursprünglich werden nämlich alle Regeln und
Lehren der Geisteswissenschaft in einer sinnbildlichen
Zeichensprache gegeben. Und wer ihre ganze Bedeutung und
Tragweite kennenlernen will, der muss erst diese sinnbildliche
Sprache sich zum Verständnis bringen. Dieses Verständnis ist
davon abhängig, dass der Betreffende bereits die ersten Schritte
in der Geheimwissenschaft getan hat. Diese Schritte aber kann
er durch die genaue Beobachtung solcher Regeln gehen, wie sie
hier gegeben werden. Jedem steht der Weg offen, der
ernstliches Wollen hat.
Einfach ist die obige Regel bezüglich der Augenblicke der
inneren Ruhe. Und einfach ist auch ihre Befolgung. Aber zum
Ziele führt sie nur, wenn sie ebenso ernst und streng angefasst
wird, wie sie einfach ist - ohne Umschweife soll daher hier auch
gesagt werden, wie diese Regel zu befolgen ist.
Der Geheimschüler hat sich eine kurze Zeit von seinem
täglichen Leben auszusondern, um sich in dieser Zeit mit etwas
ganz anderem zu befassen, als die Gegenstände seiner täglichen
Beschäftigung sind. Und auch die Art seiner Beschäftigung muss
eine ganz andere sein als diejenige, mit der er den übrigen Tag
ausfüllt das ist aber nicht so zu verstehen, als ob dasjenige, was
er in dieser ausgesonderten Zeit vollbringt, nichts zu tun habe
mit dem Inhalt seiner täglichen Arbeit im Gegenteil: der
Mensch, der solche abgesonderten Augenblicke in der rechten
Art sucht, wird bald bemerken, dass er durch sie erst die volle
Kraft zu seiner Tagesaufgabe erhält. Auch darf nicht geglaubt
werden, dass die Beobachtung dieser Regel jemandem wirklich
Zeit von seiner Pflichtenleistung entziehen könne. Wenn
jemand wirklich nicht mehr Zeit zur Verfügung haben sollte, so
genügen fünf Minuten jeden Tag. Es kommt darauf an, wie diese
fünf Minuten angewendet werden.
In dieser Zeit soll der Mensch sich vollständig herausreißen aus
seinem Alltagsleben. Sein Gedanken-, sein Gefühlsleben soll da
eine andere Färbung erhalten, als sie sonst haben. Er soll seine
Freuden, seine Leiden, seine Sorgen, seine Erfahrungen, seine
Taten vor seiner Seele vorbeiziehen lassen. Und er soll sich
dabei so stellen, dass er alles das, was er sonst erlebt, von einem
höheren Gesichtspunkte aus ansieht man denke nur einmal
daran, wie man im gewöhnlichen Leben etwas ganz anders
ansieht, was ein anderer erlebt oder getan hat, als was man
selbst erlebt oder getan hat das kann nicht anders sein. Denn
mit dem, was man selbst erlebt oder tut, ist man verwoben; das
Erlebnis oder die Tat eines anderen betrachtet man nur. Was
man in den ausgesonderten Augenblicken anzustreben hat, ist
nun, die eigenen Erlebnisse und Taten so anzuschauen, so zu
beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern als ob sie ein
anderer erlebt oder getan hätte. Man stelle sich einmal vor:
jemand habe einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Wie
anders steht er dem gegenüber als einem ganz gleichen
Schicksalsschläge bei seinem Mitmenschen? Niemand kann das
für unberechtigt halten. Es liegt in der menschlichen Natur.
Und ähnlich wie in solchen außergewöhnlichen Fällen ist es in
den alltäglichen Angelegenheiten des Lebens. Der
Geheimschüler muss die Kraft suchen, sich selbst in gewissen
Zeiten wie ein Fremder gegenüberzustehen. Mit der inneren
Ruhe des Beurteilers muss er sich selbst entgegentreten.
Erreicht man das, dann zeigen sich einem die eigenen Erlebnisse
in einem neuen Lichte. Solange man in sie verwoben ist, solange
man in ihnen steht, hängt man mit dem Unwesentlichen ebenso
zusammen wie mit dem Wesentlichen. Kommt man zur inneren
Ruhe des Überblicks, dann sondert sich das Wesentliche von
dem Unwesentlichen. Kummer und Freude, jeder Gedanke,
jeder Entschluss erscheinen anders, wenn man sich so selbst
gegenübersteht - Es ist, wie wenn man den ganzen Tag
hindurch in einem Orte sich aufgehalten hat und das Kleinste
ebenso nahe gesehen hat wie das Größte; dann des Abends auf
einen benachbarten Hügel steigt und den ganzen Ort auf einmal
überschaut da erscheinen die Teile dieses Ortes in anderen
gegenseitigen Verhältnissen, als wenn man darinnen ist mit
gegenwärtig erlebten Schicksalsfügungen wird und braucht dies
nicht zu gelingen; mit länger vergangenen muss es vom Schüler
des Geisteslebens erstrebt werden. - Der Wert solcher inneren,
ruhigen Selbstschau hängt viel weniger davon ab, was man
dabei erschaut, als vielmehr davon, dass man in sich die Kraft
findet, die solche innere Ruhe entwickelt.
Denn jeder Mensch trägt neben seinem - wir wollen ihn so
nennen - Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen
höheren Menschen. Dieser höhere Mensch bleibt so lange
verborgen, bis er geweckt wird. Und jeder kann diesen höheren
Menschen nur selbst in sich erwecken. Solange aber dieser
höhere Mensch nicht erweckt ist, so lange bleiben auch die in
jedem Menschen schlummernden höheren Fähigkeiten
verborgen, die zu übersinnlichen Erkenntnissen führen. Solange
jemand die Frucht der inneren Ruhe nicht fühlt, muss er sich
eben sagen, dass er in der ernsten strengen Befolgung der
angeführten Regel fortfahren muss. Für jeden, der so verfährt,
kommt der Tag, wo es um ihn herum geistig hell wird, wo sich
einem Auge, das er bis dahin in sich nicht gekannt hat, eine
ganz neue Welt erschließen wird.
Und nichts braucht sich im äußeren Leben des Geheimschülers
zu ändern dadurch, dass er anfängt, diese Regel zu befolgen. Er
geht seinen Pflichten nach wie vorher; er duldet dieselben
Leiden und erlebt dieselben Freuden zunächst wie vorher. In
keiner Weise kann er dadurch dem «Leben» entfremdet werden.
Ja, er kann umso voller den übrigen Tag hindurch diesem
«Leben» nachgehen, weil er in seinen ausgesonderten
Augenblicken ein «höheres Leben» sich aneignet. Nach und
nach wird dieses «höhere Leben» schon seinen Einfluss auf das
gewöhnliche geltend machen. Die Ruhe der ausgesonderten
Augenblicke wird ihre Wirkung auch auf den Alltag haben. Der
ganze Mensch wird ruhiger werden, wird Sicherheit bei all
seinen Handlungen gewinnen, wird nicht mehr aus der Fassung
gebracht werden können durch alle möglichen Zwischenfälle.
Allmählich wird sich solch angehender Geheimschüler
sozusagen immer mehr selbst leiten und weniger von den
Umständen und äußeren Einflüssen leiten lassen. Ein solcher
Mensch wird bald bemerken, was für eine Kraftquelle solche
ausgesonderte Zeitabschnitte für ihn sind. Er wird anfangen,
sich über Dinge nicht mehr zu ärgern, über die er sich vorher
geärgert hat; unzählige Dinge, die er vorher gefürchtet hat,
hören auf, ihm Befürchtungen zu machen. Eine ganz neue
Lebensauffassung eignet er sich an. Vorher ging er vielleicht
zaghaft an diese oder jene Verrichtung. Er sagte sich: Oh, meine
Kraft reicht nicht aus, dies so zu machen, wie ich es gerne
gemacht hätte. Jetzt kommt ihm nicht mehr dieser Gedanke,
sondern vielmehr ein ganz anderer. Nunmehr sagt er sich
nämlich: Ich will alle Kraft zusammennehmen, um meine Sache
so gut zu machen, als ich nur irgend kann. Und den Gedanken,
der ihn zaghaft machen könnte, unterdrückt er. Denn er weiß,
dass ihn eben die Zaghaftigkeit zu einer schlechten Leistung
veranlassen könnte, dass jedenfalls diese Zaghaftigkeit nichts
beitragen kann zur Verbesserung dessen, was ihm obliegt. Und
so ziehen Gedanke nach Gedanke in die Lebensauffassung des
Geheimschülers ein, die fruchtbar, förderlich sind für sein
Leben. Sie treten an die Stelle von solchen, die ihm hinderlich,
schwächend waren. Er fängt an, sein Lebensschiff einen
sicheren, festen Gang zu führen innerhalb der Wogen des
Lebens, während es vorher von diesen Wogen hin und her
geschlagen worden ist.
Und solche Ruhe und Sicherheit wirken auch auf das ganze
menschliche Wesen zurück. Der innere Mensch wächst
dadurch. Und mit ihm wachsen jene inneren Fähigkeiten,
welche zu den höheren Erkenntnissen führen. Denn durch
seine in dieser Richtung gemachten Fortschritte gelangt der
Geheimschüler allmählich dahin, dass er selbst bestimmt, wie
die Eindrücke der Außenwelt auf ihn einwirken dürfen. Er hört
zum Beispiel ein Wort, durch das ein anderer ihn verletzen oder
ärgern will. Vor seiner Geheimschülerschaft wäre er auch
verletzt worden oder hätte sich geärgert da er nun den Pfad der
Geheimschülerschaft betreten hat, ist er imstande, dem Worte
seinen verletzenden oder ärgerlichen Stachel zu nehmen, bevor
es den Weg zu seinem Innern gefunden hat. Oder ein anderes
Beispiel.
Ein Mensch wird leicht ungeduldig, wenn er warten
soll. Er betritt den Pfad des Geheimschülers. Er durchdringt sich
in seinen Augenblicken der Ruhe so sehr mit dem Gefühl von
der Zwecklosigkeit vieler Ungeduld, dass er fortan bei jeder
erlebten Ungeduld sofort dieses Gefühl gegenwärtig hat. Die
Ungeduld, die sich schon einstellen wollte, verschwindet, und
eine Zeit, die sonst verloren gegangen wäre unter den
Vorstellungen der Ungeduld, wird vielleicht ausgefüllt von
einer nützlichen Beobachtung, die während des Wartens
gemacht werden kann.
Nun muss man sich nur die Tragweite von alledem
vergegenwärtigen. Man bedenke, dass der «höhere Mensch» im
Menschen in fortwährender Entwicklung ist. Durch die
beschriebene Ruhe und Sicherheit wird ihm aber allein eine
gesetzmäßige Entwicklung ermöglicht die Wogen des äußeren
Lebens zwängen den inneren Menschen von allen Seiten ein,
wenn der Mensch nicht dieses Leben beherrscht, sondern von
ihm beherrscht wird. Ein solcher Mensch ist wie eine Pflanze,
die sich in einer Felsspalte entwickeln soll. Sie verkümmert so
lange, bis man ihr Raum schafft dem inneren Menschen können
keine äußeren Kräfte Raum schaffen. Das vermag nur die innere
Ruhe, die er seiner Seele schafft Äußere Verhältnisse können
nur seine äußere Lebenslage ändern; den «geistigen Menschen»
in ihm können sie nie und nimmer erwecken. - In sich selbst
muss der Geheimschüler einen neuen, einen höheren Menschen
gebären.
Dieser «höhere Mensch» wird dann der «innere Herrscher», der
mit sicherer Hand die Verhältnisse des äußeren Menschen
führt. Solange der äußere Mensch die Oberhand und Leitung
hat, ist dieser «innere» sein Sklave und kann daher seine Kräfte
nicht entfalten. Hängt es von etwas anderem als von mir ah, ob
ich mich ärgere oder nicht, so bin ich nicht Herr meiner selbst,
oder - noch besser gesagt -: ich habe den «Herrscher in mir»
noch nicht gefunden. Ich muss in mir die Fähigkeit entwickeln,
die Eindrücke der Außenwelt nur in einer durch mich selbst
bestimmten Weise an mich herankommen zu lassen; dann kann
ich erst Geheimschüler werden. - Und nur insoweit der
Geheimschüler ernstlich nach dieser Kraft sucht, kann er zum
Ziel kommen. Es kommt nicht darauf an, wie weit es einer in
einer bestimmten Zeit bringt; sondern allein darauf, dass er
ernstlich sucht. Schon manchen hat es gegeben, der jahrelang
sich angestrengt hat, ohne an sich einen merklichen Fortschritt
zu bemerken; viele von denen aber, die nicht verzweifelt,
sondern unerschütterlich geblieben sind, haben dann ganz
plötzlich den «inneren Sieg» errungen.
Es gehört gewiss in mancher Lebenslage eine große Kraft dazu,
sich Augenblicke innerer Ruhe zu schaffen. Aber je größer die
notwendige Kraft, desto bedeutender ist auch das, was erreicht
wird. Alles hängt in bezug auf die Geheimschülerschaft davon
ab, dass man energisch, mit innerer Wahrheit und rückhaltloser
Aufrichtigkeit sich selbst, mit allen seinen Handlungen und
Taten, als ein völlig Fremder gegenüberstehen kann.
Aber nur eine Seite der inneren Tätigkeit des Geheimschülers
ist durch diese Geburt des eigenen höheren Menschen
gekennzeichnet. Es muss dazu noch etwas anderes kommen.
Wenn sich nämlich der Mensch auch selbst als ein Fremder
gegenübersteht, so betrachtet er doch nur sich selbst; er sieht
auf diejenigen Erlebnisse und Handlungen, mit denen er durch
seine besondere Lebenslage verwachsen ist. Er muss darüber
hinauskommen. Er muss sich erheben zu einem rein
Menschlichen, das nichts mehr mit seiner besonderen Lage zu
tun hat. Er muss zu einer Betrachtung derjenigen Dinge
übergehen, die ihn als Mensch etwas angingen, auch wenn er
unter ganz anderen Verhältnissen, in einer ganz anderen Lage
lebte. Dadurch lebt in ihm etwas auf, was über das Persönliche
hinausragt. Er richtet damit den Blick in höhere Welten, als
diejenigen sind, mit denen ihn der Alltag zusammenführt und
damit beginnt der Mensch zu fühlen, zu erleben, dass er solchen
höheren Welten angehört. Es sind das Welten, über die ihm
seine Sinne, seine alltägliche Beschäftigung nichts sagen
können. So erst verlegt er den Mittelpunkt seines Wesens in
sein Inneres. Er hört auf die Stimmen in seinem Innern, die in
den Augenblicken der Ruhe zu ihm sprechen; er pflegt im
Innern Umgang mit der geistigen Welt. Er ist dem Alltag
entrückt der Lärm dieses Alltags ist für ihn verstummt. Es ist um
ihn herum still geworden. Er weist alles ab, was ihn an solche
Eindrücke von außen erinnert die ruhige Beschaulichkeit im
Innern, die Zwiesprache mit der rein geistigen Welt füllt seine
ganze Seele aus. - Ein natürliches Lebensbedürfnis muss dem
Geheimschüler solche stille Beschaulichkeit werden. Er ist
zunächst ganz in eine Gedanken-Welt versenkt. Er muss für
diese stille Gedankentätigkeit ein lebendiges Gefühl entwickeln.
Er muss lieben lernen, was ihm der Geist da zuströmt. Bald hört
er dann auch auf, diese Gedankenwelt als etwas zu empfinden,
was unwirklicher sei als die Dinge des Alltags, die ihn umgeben.
Er fängt an, mit seinen Gedanken umzugehen wie mit den
Dingen im Raume. Und dann naht für ihn auch der Augenblick,
in dem er das, was sich ihm in der Stille innerer Gedankenarbeit
offenbart, als viel höher, wirklicher zu fühlen beginnt als die
Dinge im Raume. Er erfährt, dass sich Leben in dieser
Gedankenwelt ausspricht. Er sieht ein, dass sich in Gedanken
nicht bloße Schattenbilder ausleben, sondern, dass durch sie
verborgene Wesenheiten zu ihm sprechen. Es fängt an, aus der
Stille heraus zu ihm zu sprechen. Vorher hat es nur durch sein
Ohr zu ihm getönt; jetzt tönt es durch seine Seele. Eine innere
Sprache - ein inneres Wort - hat sich ihm erschlossen. Beseligt
im höchsten Grade fühlt sich der Geheimschüler, wenn er
diesen Augenblick zum ersten Male erlebt. Über seine ganze
äußere Welt ergießt sich ein inneres Licht. Ein zweites Leben
beginnt für ihn. Der Strom einer göttlichen, einer
gottbeseligenden Welt ergießt sich durch ihn.
Solches Leben der Seele in Gedanken, das sich immer mehr
erweitert zu einem Leben in geistiger Wesenheit, nennt die
Gnosis, die Geisteswissenschaft Meditation (beschauliches
Nachdenken). Diese Meditation ist das Mittel zu übersinnlicher
Erkenntnis. - Aber nicht schwelgen in Gefühlen soll der
Geheimschüler in solchen Augenblicken. Er soll nicht
unbestimmte Empfindungen in seiner Seele haben. Das würde
ihn nur hindern, zu wahrer geistiger Erkenntnis zu kommen.
Klar, scharf, bestimmt sollen sich seine Gedanken gestalten.
Dazu wird er einen Anhalt finden, wenn er sich nicht blind an
die Gedanken hält, die ihm aufsteigen. Er soll sich vielmehr mit
den hohen Gedanken durchdringen, welche vorgeschrittene,
schon vom Geist erfasste Menschen in solchen Augenblicken
gedacht haben. Er soll zum Ausgangspunkte die Schriften
nehmen, die selbst solcher Offenbarung in der Meditation
entsprossen sind. In der mystischen, in der gnostischen, in der
geisteswissenschaftlichen Literatur von heute findet der
Geheimschüler solche Schriften. Da ergeben sich ihm die Stoffe
zu seiner Meditation. Die Geistsucher haben selbst in solchen
Schriften die Gedanken der göttlichen Wissenschaft
niedergelegt; der Geist hat durch seine Boten sie der Welt
verkündigen lassen.
Durch solche Meditation geht eine völlige Verwandlung mit
dem Geheimschüler vor. Er fängt an, über die Wirklichkeit ganz
neue Vorstellungen sich zu bilden. Alle Dinge erhalten für ihn
einen anderen Wert. Immer wieder muss es gesagt werden:
nicht weltfremd wird der Geheimschüler durch solche
Wandlung. Er wird auf keinen Fall seinem alltäglichen
Pflichtenkreis entfremdet. Denn er lernt einsehen, dass die
geringste Handlung, die er zu vollbringen hat, das geringste
Erlebnis, das sich ihm darbietet, im Zusammenhang stehen mit
den großen Weltwesenheiten und Weltereignissen. Wird ihm
dieser Zusammenhang durch seine beschaulichen Augenblicke
erst klar, dann geht er mit neuer vollerer Kraft an seinen
täglichen Wirkungskreis. Denn jetzt weiß er: was er arbeitet,
was er leidet, das arbeitet, leidet er um eines großen, geistigen
Weltzusammenhanges willen. Kraft zum Leben, nicht Lässigkeit
quillt aus der Meditation.
Mit sicherem Schritt geht der Geheimschüler durch das Leben.
Was es ihm auch bringen mag, lässt ihn aufrecht schreiten.
Vorher hat er nicht gewusst, warum er arbeitet, warum er
leidet: jetzt weiß er dies. Einzusehen ist, dass solche
Meditationstätigkeit besser zum Ziele führt, wenn sie unter
Anleitung erfahrener Menschen geschieht. Solchen Menschen,
die von sich aus wissen, wie alles am besten zu machen ist. Man
sehe daher den Rat, die Anweisung solcher Menschen sich an.
Man verliert dadurch wahrlich nicht seine Freiheit. Was sonst
nur unsicheres Tappen sein kann, wird durch solche Anleitung
zum zielsicheren Arbeiten. Wer sich um solche kümmert, die in
dieser Richtung Wissen, Erfahrung haben, wird niemals
vergeblich anklopfen. Er sei sich nur bewusst, dass er nichts
anderes sucht als den Rat eines Freundes, nicht die Übermacht
eines solchen, der herrschen will. Man wird immer finden, dass
diejenigen, die wirklich wissen, die bescheidensten Menschen
sind, und dass ihnen nichts ferner liegt als dasjenige, was die
Menschen Machtgelüste nennen.
Wer sich durch die Meditation erhebt zu dem, was den
Menschen mit dem Geist verbindet, der beginnt in sich das zu
beleben, was ewig in ihm ist, was nicht durch Geburt und Tod
begrenzt ist. Nur diejenigen können zweifeln an einem solchen
Ewigen, die es nicht selbst erlebt haben. So ist die Meditation
der Weg, der den Menschen auch zur Erkenntnis, zur
Anschauung seines ewigen, unzerstörbaren Wesenskernes führt
und nur durch sie kann der Mensch zu solcher Anschauung
kommen. Gnosis, Geisteswissenschaft sprechen von der
Ewigkeit dieses Wesenskernes, von der Wiederverkörperung
desselben. Oft wird gefragt, warum weiß der Mensch nichts von
seinen Erlebnissen, die jenseits von Geburt und Tod liegen?
Aber nicht so sollte gefragt werden. Sondern vielmehr so: wie
gelangt man zu solchem Wissen? In der richtigen Meditation
eröffnet sich der Weg. Durch sie lebt die Erinnerung auf an
Erlebnisse, die jenseits von Geburt und Tod liegen. Jeder kann
dieses Wissen erwerben; in jedem liegen die Fähigkeiten, selbst
zu erkennen, selbst zu schauen, was echte Mystik,
Geisteswissenschaft, Anthroposophie und Gnosis lehren. Er
muss nur die richtigen Mittel wählen. Nur ein Wesen, das
Ohren und Augen hat, kann Töne und Farben wahrnehmen.
Und auch das Auge kann nichts wahrnehmen, wenn das Licht
fehlt, das die Dinge sichtbar macht In der Geheimwissenschaft
sind die Mittel gegeben, die geistigen Ohren und Augen zu
entwickeln und das geistige Licht zu entzünden. Als drei Stufen
können die Mittel der geistigen Schulung bezeichnet werden:
1. Die Vorbereitung. Sie entwickelt die geistigen Sinne.
2. Die Erleuchtung. Sie zündet das geistige Licht an.
3. Die Einweihung. Sie eröffnet den Verkehr mit den höheren
Wesenheiten des Geistes.
Rudolf Steiner
Buch: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?