In letzter Zeit fällt mir auf, dass sich Widerspruch in mir regt, wenn ich lese, Angst sei das Gegenteil der Liebe. Verstanden habe ich diesen Gedanken noch nie wirklich. Bisher dachte ich mir einfach, dass da vielleicht doch irgendetwas dran ist, was ich eben einfach noch nicht verstehe. Heute merke ich, dass ich es wichtig finde, auf diese Aussage mal einen tieferen Blick zu werfen, denn Sprache ist bewusstseinsbildend und Gedanken formen Realität - zumindest nach meiner Erfahrung.
Eine kurze Definition von Liebe
Was verstehen wir eigentlich unter Liebe? Die meisten von uns denken spontan an Freundlichkeit, emotionale Wärme, Zugewandtheit, Weichheit, Hingabe und an viele weitere angenehme Gefühle und Lebensäußerungen. Hass, Angst, Aggression, Krieg und ähnliches würden wir nicht unbedingt als Liebe bezeichnen.
In Kreuzworträtseln wird hin und wieder gefragt, was unter "tiefer Verbundenheit" zu verstehen sei. Die Antwort darauf lautet: Liebe. Es wird mit keinem Wort erwähnt, ob sich diese tiefe Verbundenheit freundlich und leicht anfühlt oder vielleicht ja auch aggressiv und schwer. Wenn wir also von tiefer Verbundenheit reden, dann kann ich auch im Hass tief mit dem Rest der Welt verbunden sein. Und tatsächlich ist es ja auch so: Ich kann nur jemanden hassen, den ich liebe. Wenn ich ihn nicht lieben würde, wäre er mir einfach egal. Hass ist also ein sehr spezieller Ausdruck von Liebe, auch wenn er ein Ausdruck verletzter Liebe sein mag.
Doch zurück zur Definition. Ja, wir können sagen: Liebe ist Verbundenheit. Wie bewusst mir diese Verbundenheit ist, ist von Bedeutung. Je klarer mir wird, dass ich verbunden bin und zwar mit allem, desto klarer kann ich nicht nur wissen, dass letztlich alles aus Liebe besteht, sondern es auch spüren, es real körperlich wahrnehmen.
Liebe ist Verbundenheit.
Die Rehabilitation der Angst
In meiner ganz persönlichen Welt ist Angst ein Aspekt, ein Ausdruck der Liebe. Nicht nur als lebensfernes, spirituelles Konzept, sondern auch hier, ganz irdisch und in meinem Körper.
Ein ganz simples Beispiel ist eine Mutter, die Angst um ihr Kind hat, wenn es sich in eine gefährliche Situation begibt. Auch Todesangst spüren wir nur, wenn wir dieses Leben hier lieben und in ihm bleiben wollen. Wir haben Angst davor, etwas zu verlieren, das wir lieben. Wir können auch Angst haben davor, etwas zu tun, was wir wirklich tun wollen, wenn wir fürchten, die Liebe von anderen zu verlieren und so weiter und so fort. Es gibt viele Situationen, in denen wir Angst haben.
(Jetzt während des Schreibens fällt mir auf, dass ich als Gegenpol der Angst am ehesten das Vertrauen sehen würde.)
Was geschieht, wenn wir die Angst als Gegenteil der Liebe sehen? In den meisten Fällen versuchen wir, sie zu vermeiden und bekämpfen sie. Wir wollen ja schließlich nicht als lieblos vor uns selbst und anderen da stehen. Zumeist fühlt sich die Angst ja auch nicht sehr angenehm an. Es ist also verständlich, dass wir versuchen, sie zu umgehen. Doch wie wäre es, wenn wir sie stattdessen einfach mal zulassen und als Teil des Lebens und unseres Seins annehmen würden?
Dann würde die Mutter vielleicht immer noch Angst haben, wenn ihr Kind auf einen Baum klettert. Sie würde aufmerksam sein, es aber klettern lassen. Das Kind könnte sich vertraut machen mit dem Baum, mit der Höhe, mit den eigenen Kräften und Fähigkeiten und die Mutter könnte Vertrauen entwickeln. Sie würde dem Kind nicht einfach verbieten, auf Bäume zu klettern, sondern ihm die Freiheit geben, sich auszuprobieren.
In einem anderen Fall ist die Angst der Mutter einfach angebracht. Wenn das Kind auf die Straße rennt, wird diese Angst der Mutter dem Kind ggf. das Leben retten.
Auch wenn wir uns das Spüren unserer Todesangst erlauben würden, könnten wir wahrnehmen, wie sehr wir dieses Leben hier lieben, wie tief unsere Sehnsucht nach Leben ist und würden vielleicht den Mut finden, unsere lähmende Angst vor dem Ungeliebtsein zu überwinden, indem wir auch diese Angst begrüßen und dennoch die Dinge tun, die wir schon immer tun wollten. Unsere Selbstliebe würde wachsen und wir wären freier und unabhängiger von der Liebe anderer, was bekanntlich paradoxerweise dazu führt, dass wir mehr Liebe auch im Außen erfahren.
Lieben wir uns so sehr, dass wir auch unserer Angst ihren Raum geben! Hören wir auf, diesen Teil unseres Seins abzuspalten! Dann finden wir Wege, mit ihr so umzugehen, dass sie uns unterstützt und nicht behindert.
Nein, Angst ist in meinen Augen ganz sicher nicht das Gegenteil der Liebe.
Der rote Faden
Doch was ist dann Gegenpol der Liebe in unserer dualistischen Welt?
Als ich heute meine Freundin in ein Gespräch über dieses Thema verwickelte, war ich zunächst noch der Meinung, dass Gleichgültigkeit diesen Platz einnimmt. Wir haben schnell festgestellt, dass auch dieses Wort sehr unterschiedlich gedeutet werden kann und offensichtlich auch wird.
Meine Freundin verband Gleichgültigkeit mit einem bewussten Akt der Abkehr und damit auch mit einer Anstrengung. Für mich fühlte sich Gleichgültigkeit eher wie eine Leere an. Und dann kam ein roter Faden in dieses gesamte Thema.
Es gibt offenbar ein Davor und ein Danach. Davor gibt es tatsächlich einen leeren Raum bzw. einen Raum, den ich noch nicht beleuchtet habe, auf den der Strahl meiner Bewusstseinstaschenlampe im Universum noch nicht gefallen ist. Er ist vermutlich gar nicht leer, nur nehme ich nicht wahr, was er enthält und ich bin in der Neutralität. Dann schiebt sich der Raum in mein Bewusstsein und löst in mir Emotionen aller Art aus. Manche fühlen sich angenehm an und manche nicht. Es gibt Zärtlichkeit, Krieg, Freiheit, Kontrolle, Vertrauen, Angst, Mut, Hingabe und alles, was das Leben hier so kennt. Manches lehne ich ab und manches will ich haben. Und die Wesen, die diese Emotionen in mir auslösen, halte ich für Übeltäter oder für Engel. Das geht so lange so, bis ich alle Emotionen durchlebt und angenommen habe. Wenn mir das gelungen ist (was unter Umständen viele Inkarnationen dauern kann), dann gibt es keine Übeltäter oder Engel mehr und die Dinge beruhigen sich. Sie bekommen die gleiche Gültigkeit und werden wieder egal. Doch noch immer bin ich mit ihnen verbunden. Der Raum, der mir vorher leer erschien, ist nun klar gefüllt und ich liebe und lasse alles (All-Es) so sein, wie es ist.
Nein, auch Gleichgültigkeit ist nicht das Gegenteil von Liebe.
Verbundenheit und Trennung
Ich hatte anfangs geschrieben, dass wir Liebe als Verbundenheit bezeichnen können. So können wir vielleicht Trennung als Nichtliebe bezeichnen.
Und stimmt das?
Die bewusste Abkehr, die meine Freundin als Gleichgültigkeit bezeichnet hatte, könnte so etwas sein. Wann kehren wir uns ab? Und wann lässt es uns tatsächlich los? Wenn ich versuche, etwas zu ignorieren, weil es mich belästigt, mich ärgert, mir unschöne Gefühle bringt, mich einengt oder was auch immer, dann kann ich das auf der bewussten Ebene selbstverständlich tun. Ich verschiebe meinen Frust ins Unterbewusstsein und wundere mich nach einigen Jahren, warum ich mich noch immer nicht gut fühle. Dann brauche ich einen Psychologen, eine Schamanin oder eine andere helfende Hand, die gemeinsam mit mir meine verdrängten Anteile wieder ins Bewusstsein holt und bearbeitet. Ich merke, das, von dem ich mich abgekehrt habe, hat mich die ganze Zeit nicht losgelassen. Eine Trennung gab es nicht. Nicht wirklich. Es gab eine Illusion der Trennung, aber ich war immer mit dem verbunden, was ich ablehnte und habe viel Kraft und Energie aufgebracht, diese Illusion aufrecht zu erhalten. Trick 17 lautet: Ich nehme an, was ich ablehne, damit es mich loslassen kann. Es darf in mir, in meiner Ganzheit sein, frei fließen und ich nehme nicht nur meinen bewussten, sondern vor allem auch meinen unbewussten Fokus, den ich all die Jahre auf ihm liegen hatte, wahrhaftig von ihm. Ich lasse Verbundenheit, also Liebe zu und es hört auf, mich zu belästigen, zu ärgern, mir unschöne Gefühle zu bringen.
Liebe - ganz unromantisch
Wie ich es also drehe und wende ... es gibt in meinem Erleben kein Gegenteil der Liebe. Sie ist Verbundenheit und Verbundenheit ist das, was ist. Ich glaube, was uns gerne schwer zu schaffen macht, ist unsere Vorstellung davon, wie sich Liebe anfühlt. Sie kommt eben nicht nur freundlich, weich und zärtlich daher, sondern kann sich nach Angst, Hass, hart und kriegerisch anfühlen.
Es heißt doch immer, wir sollen nach dem Licht im Dunklen suchen, nicht wahr? Und ich glaube, ja, das lohnt sich: Suchen wir nach der Liebe im Hass, der Liebe im Krieg, der Liebe in der Angst. Nehmen wir uns selbst ganz und gar an, mit allem, was wir sind, mit allen Gefühlen und Emotionen, dann können wir dies auch mit den anderen Menschen, Wesen tun.
Wir können sie immer finden, die Verbundenheit und wir können auch immer Wege finden, sie zuzulassen, wenn wir es wollen.