17.04.2021, 10:40
Geistig behindert ?
Eine Geschichte und die Essenz, welche ich daraus zog
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Vorab nun die Geschichte, die ich vor etlichen Jahren erleben durfte und einer Freundin zu verdanken habe, die mich per Telefonat um Hilfe bat. Es ging um ihren achtjährigen Sohn mit Down-Syndrom, für den sie halbtags einen Betreuungsort suchte, der ihren Sohn auch angemessen schulen und fördern sollte. Sie fand auch einen solchen, der nach der Waldorf-Pädagogik ihr Interesse weckte. Das Problem bestand nun darin, daß sie zwar einen Termin zur Besichtigung bekam, sich aber kurz darauf den Fuß brach und dementsprechend nicht Autofahren, geschweige denn gut laufen konnte. Hier kam nun ich ins Spiel, weil sie mich dringendst darum bat, an ihrer Stelle dorthin zu fahren, um mit meiner Erfahrung medizinischer Einrichtungen betreffend, zu einer Einschätzung zu gelangen. Ihr Vertrauen ehrte mich sehr und so kam ich dieser Bitte auch gerne nach.
Als ich dort eintraf wurde ich bereits erwartet und man war auch darüber informiert, daß ich lediglich ein "Stellvertreter" war. Dennoch wurde ich sehr freundlich über die Abläufe informiert, die Konzepte wurden ausgiebig erklärt und alle Räumlichkeiten der verschiedenen Gebäude gezeigt. Da es dann mittlerweile schon gegen Mittag war, wurde ich sogar zum Essen geladen und bekam somit auch gleich das gemeinsame Einnehmen und die Qualität der Mahlzeit mit. Alles was jetzt noch fehlte, um meinen bisher guten Eindruck abzurunden, war die Besichtigung der AußenAnlage mit all ihren Gärten und dem selbstangebauten Gemüse.
Nun, mir fiel schon beim Mittagessen ein junger, blasser Mann im Rollstuhl auf und ich fragte das Personal, ob es in Ordnung wäre, ihn zu meiner Begleitung und seiner eigenen Spazierfahrt mitnehmen zu dürfen. Darüber war man sehr erfreut, denn sein persönlicher Betreuer war bereits seit Tagen krank und man selber schon mehr als ausgelastet.
Er wäre ohnehin sehr pflegeleicht und schüchtern. Sprechen würde er mit Fremden sogut wie gar nicht.
Das war ein Trugschluss wie sich zeigte, denn während ich den Rollstuhl vor mir her schob, plauderte ich auf ihn ein, als ob er ein alter Bekannter wäre, erzählte dies und das, machte meine Witze und bekam auch seine Antwort in Form von lautem Gelächter und vielen Worten, die mein Verstand zwar nicht immer gut deuten konnte, meine Seele aber durchaus, weil es ein Herz zu Herz Gespräch unter Männern war.
Die Anlage dort war ausnehmend schön, das Wetter prächtig und alles stand in voller Blüte. An einem Teich machten wir kurz Rast und ich bemängelte, daß dort keine Fische ansässig wären, plötzlich sagte er "DA" und zeigte auf einen Frosch, den ich ohne sein hindeuten gar nicht bemerkt hätte. Mir wurde plötzlich bewusst, wie wach doch sein innerer Geist war, trotz seiner sehr eingeschränkten Möglichkeit, dies sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Seine Augen leuchteten wie die eines Kindes zu Weihnachten und ich war tief berührt von dieser kindlichen Freude und Entzückung.
Er trug einen BaumwollBeutel bei sich, indem sich, außer Unmengen von Süßigkeiten, auch ein Protokollheft für die Eltern befand. Darin wurde im Grunde sein alltägliches Befinden, die Anzahl der Toilettengänge und ähnliche Besonderheiten eingetragen. Er reichte mir nun (neben einer klebrigen Lakritzschnecke) Kugelschreiber und das Heft, weil es ihm sehr wichtig erschien, dies alles für ihn dort einzutragen. Natürlich tat ich das auch, indem ich ihm Wort für Wort vorlas, was ich da niederschrieb und er nickte lächelnd vor sich hin. Unter anderem schrieb ich, daß die Bratwurst zum Mittag grauselig trocken, das Gemüse jedoch wiederum sehr lecker war. Ich schrieb den Eltern aber auch, daß mich dieser Tag sehr bereichert hat und daß in ihrem Sohn ein sehr wacher Geist und ebenso beeindruckende Seele stecken würde.
Wir machten uns nun langsam auf den Rückweg...man hatte uns tatsächlich schon vermisst, denn die Zeit war wie im Fluge vergangen. Beim Abschied gab er zu verstehen, daß er Hilfe bräuchte um kurz aufzustehen, weil er mich umarmen wollte. Das tat er dann auch, während er wortwörtlich zu mir sagte: "Du bist süß ".
Alle Umherstehenden mussten lauthals lachen, weil sie scheinbar etwas Anrüchiges darin fanden, denn sie haben nicht wirklich verstanden, daß er eigentlich diesen Nachmittag mit mir meinte, den er so sehr genossen hatte, wie sonst nur diese Süßigkeiten in seinem Beutel. Einen anderen Ausdruck als "süß" konnte er dafür nicht finden und ich war ein weiteres Mal nun tief bewegt über seine Fähigkeit, das Glück in den einfachsten Dingen zu empfinden.
Diese Begegnung hat mir vieles gezeigt unter anderem, daß ich an diesem Tag ein demütiger Schüler im Angesicht dieser schlichten und mutigen Seele sein durfte, aber vor allem, daß eben nicht der Geist "behindert" ist, sondern vielmehr der funktionsgestörte Körper und oft auch das Verständnis so mancher MitMenschen.
Ohne Frage hat es einen lebenslangen Eindruck bei mir hinterlassen und erstaunlicherweise brauchte es dafür einen gebrochenen Fuß und einen erkrankten Betreuer, um mich zu dieser interessanten SeelenBegegnung hinführen zu können.
Mit herzlichsten Grüßen
Canine