16.08.2011, 21:31
Die Welle
Es war einmal vor langer Zeit eine sehr junge, verspielte und charaktervolle Welle. Diese Welle war ganz besonders fröhlich, sie hatte den Schalk im Nacken und liebte es, aufzuwallen und zu schäumen und in den verschiedensten Kreisbewegungen zu tanzen. Sie genoss ihre wellenförmige Existenz von Herzen und spielte fürs Leben gern.
Eines Tages machte die Welle ein paar besonders vorwitzige Bewegungen, als sie einen tiefen, fast unhörbaren Ton vernahm, der aus der Tiefe des Meeres kam und der wie „Ozean“ klang….
Als die Welle diesen tiefen, wohlklingenden Ton hörte, begann sich in ihrem Innersten etwas zu regen, und sie fühlte ein tiefes Locken aus dem ursprünglichsten Teil ihres Wesens und den Wunsch, seine Bedeutung zu verstehen. Er klang faszinierend und mysteriös, und die junge Welle konnte einfach nicht aufhören, an ihn zu denken.
Ihr tiefes Bedürfnis, dieses Geheimnis zu verstehen, wurde immer grösser, und als eines Tages ein Delphin in der Nähe vorbeischwamm, bat ihn die junge Welle um einen Rat: „Oh, Delphin, bevor du weiter schwimmst – du hast immer so intelligent und klug ausgesehen – kannst du mir bitte etwas verraten? Ich habe gehört, dass es da etwas gibt, das „Ozean“ heisst, nur weiss ich nicht, was das bedeutet oder wo er ist. Kannst du es mir sagen?“
Der Delphin quietschte zurück, dass er schon seit einiger Zeit davon gehört habe und dass ein paar Theorien darüber herumschwirrten, was das wohl sein könnte – es gab sogar ein paar ältere, gelehrte Delphine, die sich regelmässig trafen in dem Versuch, seine Bedeutung zu verstehen - doch bis heute hatte noch niemand die Wahrheit entdeckt: das Konzept war nach wie vor nichts als eine Idee.
Der Delphin wünschte der jungen Welle alles Gute und winkte ihr zum Abschied mit seiner Flosse zu, während er lachte und fröhlich davonschwamm. Und als er beinahe ihrem Blick entschwunden war, rief er: „Viel Glück. Vielleicht wirst du die erste sein, die das grosse Geheimnis aufdeckt.“ Und dann tauchte er weg.
Später am Tag schwamm gemächlich eine alte, weise Schildkröte vorbei, und die junge Welle stellte der Alten die gleiche Frage und spitzte die Ohren. Davon ausgehend, dass diese alte Schildkröte in den langen Jahren ihres Lebens viel Weisheit gewonnen hatte, hoffte die Welle, sie möge die Antwort auf die Frage wissen.
„Oh, Schildkröte, du bist doch sicherlich weit gereist und hast in deinem langen Leben viel gesehen. Ich bin nur eine junge Welle und habe nicht den Schatz deiner Erfahrungen…. Kannst du mir daher bitte erklären…. Hast du schon mal was vom „Ozean“ gehört?... Hast du ihn jemals gesehen? Jedes Mal, wenn ich das Wort in meinem Innern höre, berührt es etwas tief in mir. Ich muss es unbedingt verstehen und will selbst erfahren, was es damit auf sich hat. Kannst du mir bitte helfen, oh altes weises Wesen?“
Die Schildkröte hörte still der ungestümen Welle zu und antwortete mit langsamer, tiefer Stimme: „ Oh meine Liebe, das ist eine Frage, über die ich all diese Jahre auch immer wieder nachgedacht habe …. Doch, wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht sagen, dass ich ihn jemals gesehen habe. Ich kann nicht einmal behaupten zu wissen, was es damit auf sich hat. Ich spüre, dass es da ein tiefes Geheimnis gibt, und es sind viele komplexe Theorien über seine Natur aufgestellt worden, doch kann ich nicht sagen, dass ich wirklich etwas darüber wiss. Nein, meine Tochter, ich fürchte, dass du den Rest deiner Tage nach der Antwort suchen wirst.
Ich wünsche dir viel Glück, meine Kleine. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir; vielleicht wirst du das seltene Glück haben und wirklich erfahren, was der Ozean ist….“
Die junge Welle wurde traurig darüber, dass ihr bei der Suche nach dem Ozean so wenig Erfolg beschieden war, und sie fürchtete, dass ihr vielleicht niemand wirklich eine Antwort geben konnte.
Am nächsten Tag rollte eine grosse, alte, gut geformte Welle in ihre Richtung. Aufgeregt und in dem Gedanken, dass dieser majestätische Grossvater die Antwort einfach wissen musste, fragte die kleine Welle mutig: Oh grosse Welle – du bist alt und weise und hast viel länger gelebt als jemand, der so jung ist wie ich. Ich habe irgendwo aus meinem Inneren ein tiefes Grummeln gehört, und das Wort „Ozean“ lässt mir keine Ruhe. Ich muss ihn finden. Ich muss einfach erfahren, was es damit auf sich hat! Wo kann ich den Ozean finden?“
Die alte Welle liess einen tiefen Seufzer vernehmen: Oh meine Kleine… Dies ist eine Frage, die nur die Weisesten der Weisen stellen. Du musst eine ganz besondere Welle sein, dass du ein solch tiefes inneres Rufen vernimmst, das Mysterium des Ozeans verstehen zu wollen…. Ich wünschte, ich könnte dir helfen… Ich selbst bin mein Leben lang gereist, und dieser Durst nach dem Ozean – ihn zu finden, seine Bedeutung zu kennen – hat mich nie verlassen, doch so sehr ich es auch versucht habe, ist mir seine Bedeutung immer ein unerklärliches Mysterium geblieben….
Oh, viele haben Vermutungen angestellt und gedacht, sie hätten herausgefunden, was der Ozean ist, während andere zahllose komplizierte Theorien ins Leben gerufen haben. Alle stimmen überein, dass die Wahrheit höchstwahrscheinlich nicht herauszufinden ist, jedenfalls habe ich sie noch nie erfahren. Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht einmal sicher, ob dieser sogenannte Ozean wirklich existiert.“
Die kleine Welle wurde vor Enttäuschung ganz flach, und da sie spürte, wie traurig die kleine Welle geworden war, lud die grosse Welle sie kühn ein: „Hör zu, meine Kleine… Warum reist du nicht mit mir? Wenn wir uns gemeinsam auf die Suche begeben, vielleicht wird sich das Mysterium dann erfüllen; vielleicht werden wir das Geheimnis aufdecken. Je älter ich werde, umso grösser werde ich natürlich, aber auch umso einfacher. Ich kann einfach nichts anfangen mit all den hochtrabenden Theorien darüber, was es mit dem Ozean auf sich hat. Ich fühle immer wieder in den Tiefen meines Seins, dass die Präsenz des Ozeans ganz nahe ist – wenn ich sie nur begreifen könnte.
Lass uns zusammen reisen, und wir werden sehen, was uns das Leben bringen wird.“
Und genau das taten sie: die kleine, freche, verspielte Welle entwickelte ihre Kraft und ihr Volumen, während sie neben der grossen, alten, weisen Welle herreiste.
Nach vielen Meilen begannen beide eine Strömung aus ihrem tiefsten Innern zu fühlen und spürten, dass ihre Reise schneller wurde. In totaler Hingabe öffneten sie sich der Kraft, die auf mysteriöse Weise aus der Tiefe heraufkam.
Und dann erblickten sie in der Ferne etwas, dessen sie noch nie ansichtig geworden waren, worüber sie die Fische jedoch haben flüstern hören. Die alte Welle sagte: „Oh Gott! Das ist bestimmt das, was die Fische meinen, wenn sie über die Küste sprechen und das dahinterliegende Land. Ich habe nie geglaubt, dass ich es jemals mit eigenen Augen sehen würde!“
Die Kraft in ihrem Inneren wurde immer grösser, und als sie in die Nähe der Küste kamen, schien eine zwingende Kraft die beiden Wellen immer schneller anzutreiben… Schneller und schneller… Auf den Strand zu. Ihr Tempo beschleunigte sich wie nie zuvor, bis sie plötzlich aufschlugen… spritzend und schäumend… sie ergaben sich total und verschmolzen mit dem Ozean, aus dem sie gekommen waren. In einer Sekunde war die Erkenntnis da: sie selbst waren seit jeher der Ozean gewesen – er war ihre ureigenste Essenz. Sie waren aus ihm gemacht. Sie waren von seiner unendlichen Präsenz erfüllt. Er war stets ihre wahre Natur gewesen – nur dass sie sich in der Vergangenheit damit identifiziert hatten, die Welle auf der Oberfläche des Ozeans zu sein und nie erkannt hatten, dass sie selbst seit Anbeginn der unendlich weite, grenzenlose Ozean waren und immer sein würden…
Verfasser mir unbekannt