11.05.2011, 20:36
Neugeboren - der Weg des Atems
Der Körper speichert alle Erfahrungen der Geburt, die schmerzlichen wie die der Ekstase. Um mit den schmerzlichen Erlebnissen überleben zu können, werden sie unterdrückt und im Unterbewusstsein abgespeichert. Von dort aus wirken sie und bestimmen, wie wir uns selber, die Welt und andere Menschen sehen und Beziehungen erfahren. Atemarbeit kann diese Energien befreien und eine „Neugeburt“ in Gesundheit, Kraft und Lebensfreude einleiten.
Der Beginn der Geburt wird vom Ungeborenen durch Freisetzen des wehenauslösenden Hormons bestimmt. Nach neun Monaten, einer Zeit des Wachsens, des Versorgtseins, der Schwerelosigkeit und Geborgenheit und des – meist - ozeanischen Gefühls des Einsseins wird es für den Embryo so eng, dass er den Weg nach draußen finden muss, um zu überleben. Er begibt sich auf eine Reise ins vollkommen Unbekannte. Die Geburt kann weniger als eine Stunde dauern, aber auch über 30 Stunden – für das Baby ein extreme Erfahrung. Der Geburtsprozess ist ein Zusammenspiel der Wehen der Gebärmutter und der Kraft der Bewegungen des Babys. Er kann leicht und kurz sein, zu schnell, zu schwierig oder zu lang und voller Hindernisse. Der Eintritt in die neue Welt kann durch Erfahrungen von zu grellem Licht, zu lauten Geräuschen, dem technischen Agieren des Geburtsteams und dem Temperatursturz von 15 Grad geprägt sein – kein Wunder, dass das kindliche Nervensystem da oft überfordert ist und in einen Schockzustand gerät.
Der Beginn des Lebens auf der Erde ist der Moment des ersten Atemzugs. Die sofortige Durchtrennung der Nabelschnur unterbricht die Versorgung für das Neugeborene und es muss atmen, aus der panischen Angst heraus zu ersticken und zu sterben. So jedenfalls sah der Beginn des Lebens auf dieser Erde für viele von uns aus. Es ist das große Verdienst von Frédérick Leboyer, einem französischen Gynäkologen, der einfühlsam die Torturen des Babys nachvollzog und uns darauf aufmerksam machte, wie früh wir der Autonomie und Selbstbestimmung beraubt wurden. Sein Buch “Geburt ohne Gewalt” erschien Anfang der 70er Jahre und hat zu einer neuen Offenheit und zu bewussteren Geburtspraktiken geführt.
Der Einfluss der Geburt
Nach vielen Jahren des Erforschens der Menschen, die die Rebirthing-Atemarbeit erfahren haben, sprechen die Ergebnisse dafür, dass die Art, wie wir geboren werden, uns prägt. Bei Personen, deren Geburtsformen sich ähneln, lassen sich auch ähnliche Lebenseinstellungen feststellen. Denn die Muster, die unser Bewusstsein während der Geburt prägen, sind unsere Überlebensstrategien. Jedes Mal, wenn wir durch eine schwierige Phase der Veränderungen gehen oder in Stress-Situationen geraten, wird die Blaupause unserer Geburt aktiviert. Aber: Nicht, was faktisch während der Schwangerschaft und der Geburt geschieht, prägt unsere Persönlichkeit, sondern unsere „Antwort“ darauf, wie wir die Geburt erlebt und welche Entscheidungen wir während des Geburtsprozesses getroffen haben.
Der Weg durch den Geburtskanal ist für den Embryo nur unter Einsatz seines ganzen Körpers, seiner ganzen Kraft und mit der wirksamen Unterstützung der mütterlichen Wehen zu bewältigen. Auf diesem Weg können Lebensmuster entstehen wie „das Leben ist schwer“, „ich muss kämpfen, um zu überleben“, „ich fühle mich hilflos“, „ich werde zurückgehalten“, „es gibt keinen Ausweg“, “ich schaffe es nicht“ oder “ich bin zuviel“.
Menschen, die eine “normale” Geburt (ohne Komplikation) erlebten, haben es in vielen Dingen leichter im Leben und sind anderen voraus, empfinden das jedoch als “normal”, als nichts Besonderes. Aber auch sie tragen manchmal eine Last: Sie berichten oft von einem Lebensgefühl, nicht wichtig zu sein – nicht wichtig verglichen mit anderen gleichzeitig und am selben Ort Geborenen, deren Geburtsumstände mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.
Geburtsmuster = Lebensmuster
Wenn die Geburt künstlich eingeleitet wurde, kann ein Lebensmuster entstehen, nicht selbst über die Art und die Zeit des Geschehens bestimmen zu können. Um diesen Schmerz nicht noch einmal zu erleben, wird der Betroffene alles daran setzen, es allein zu schaffen, trotz des tieferen Wissens, dass Hilfe notwendig war, um zu überleben, um erfolgreich zu sein.
Zwillinge teilen die Monate der Schwangerschaft miteinander. Für sie ist die Geburt nicht nur die Trennung von der schützend umfassenden Gebärmutter und der Verbindung mit der Mutter, sondern vor allem die Trennung vom Zwilling. Sie löst einen tiefen bleibenden Schmerz der Verlassenheit und des Alleinseins aus und eine oft unstillbare Sehnsucht nach der einst erlebten ununterbrochenen Nähe und Intimität.
Spielen Drogen (Anästhesie) bei der Geburt eine Rolle, ist ein Grundstein zur Drogensucht im Erwachsenenalter gelegt. Untersuchungen haben gezeigt, dass es eine Korrelation gab zwischen Geburtsanästhesien und der ersten Drogenwelle unter den Teenagern in den 70er Jahren, als etwa 16 Jahre davor die Durchtrittsnarkose eine allgemein gängige Geburtspraxis in den Krankenhäusern war. Dabei erhielten die Mütter, die in der Klinik entbanden, fast ohne Ausnahme eine Narkose, um ihnen die Schmerzen beim Durchtritt des Kopfes zu ersparen.
Diese Beispiele zeigen, wie die Art unserer Geburt unsere Persönlichkeit und unser Leben prägen kann. Weitere Komplikationen unter der Geburt wie ein Kaiserschnitt, Nabelschnur-Umschlingung, Zangengeburt, Steißlage, zu lange oder zu schnelle Geburt sowie die familiäre und gesellschaftliche Situation zur Zeit der Geburt hinterlassen entsprechende Geburtsblaupausen. Diese wirken sich auf Themen aus wie Bindungs- und Trennungsmuster in Beziehungen, Gewalt und Missbrauch, Misstrauen und Betrug, wie wir auf Druck reagieren, auf Stress, wie wir mit Schwierigkeiten umgehen, auf unsere Angst, keinen Ausweg zu finden, auf Themen des Selbstwerts und Narzissmus, Ess- und Schlafstörungen, unsere Beziehung zu uns selbst und unserem Körper, die Angst, vereinnahmt zu werden, unsere Beziehung zu unserer Sexualität und unsere Fähigkeit, bedingungslos zu lieben und nachhaltig Freude zu empfinden.
Der Prozess des Heilens – Rebirth, die Wiedergeburt
Es ist nie zu spät, die emotionalen und spirituellen Wunden der ersten prägenden Erfahrungen zu heilen, egal wie lange die Geburt zurück liegt. Im Körpergedächtnis der Zellen sind alle Erinnerungen gespeichert. Wenn wir die Tür zu unseren dort festgehaltenen Gefühlen aus der Vergangenheit zu öffnen beginnen, fangen wir an, uns zu erinnern und emotional und spirituell zu heilen.
In der Atemarbeit nutzen wir den Atem, um in den Raum einzutreten, der eine Aktvierung von unterdrückter und im Körper als Spannung festgehaltener Energie ermöglicht, während die bewusste Wahrnehmung sich vergrößert.
Unterdrückung ist das Ergebnis von Verurteilung. Wenn wir denken, dass etwas zu intensiv, zu schmerzlich, zu schlimm ist, trennen wir uns von dem Gefühl und spalten damit einen Teil unserer Lebensenergie ab – wir verdrängen und unterdrücken sie. Diese gebundene Energie steht uns in unserem Leben nicht zur Verfügung.
Integration ist ein Aufgeben des Kampfes gegen das, was ist. Die Voraussetzung zur Integration ist, dass wir alle unsere Energien, seien es Gefühle, Gedanken oder Körpersensationen, urteilsfrei wahrnehmen als Formen und Muster - wie die Strudel und Strömungen in einem fließenden Fluss. Auch das, was sich in der inneren Wahrnehmung unangenehm anfühlt, ist nicht negativ oder schlecht, sondern auch nur ein Energiemuster, das auftaucht, damit es wahrgenommen und in den Energiekreislauf zurückgeführt werden kann. Wenn das Energieniveau hoch ist – was beim vertieften Atmen geschieht -, können wir alles annehmen. Es geht nicht darum, etwas zu verändern, es ist ein Zulassen, ein Annehmen. In dem Moment, in dem das unterdrückte Gefühl oder der unterdrückte Gedanke gesehen und anerkannt werden, wird Festgehaltenes frei. Es kommt zu einer Neuordnung der neuronalen Verknüpfungen und Schaltstellen im Gehirn, zu einer neuen bewussteren Perspektive. Ein innerer Raum wird frei, in den das eintreten kann, was der Wahrheit näher ist, was uns authentisch macht und unser Vertrauen in das tiefere Wissen, unsere Visionen stärkt. Wir beginnen uns an unser wahres Wesen zu erinnern.
Der Prozess des Wachsens
Wenn wir in die Tiefe unserer Geburtserfahrungen eintauchen, können wir große Bereiche des menschlichen Potenzials erschließen, die Vergangenheit erlösen und vergeben. Der Urgrund unserer Seele enthält den Schlüssel zu unserem authentischen Selbst, unserem weiteren spirituellen Wachstum und unserer emotionalen Reife. Die Muster liegen im Unbewussten, an unbekannten Orten der Seele und im Körper, und haben auch die Art, wie wir atmen, geprägt: meist kürzer, flacher, verkrampfter, als es unsere Natur ist, weil wir mit der Beschneidung des Atems den Kontakt mit unserer Lebendigkeit und natürlich auch den verdrängten Gefühlen - die Teil dieser Lebendigkeit sind - vermeiden. Darum kann uns der Atem auch wieder zu diesen lange vergessenen Orten unserer Seele führen. Es ist wichtig für diese sensible innere Arbeit, eine “spirituelle Hebamme”, einen liebevollen Wegbegleiter zu finden, um mit Geduld und Wertschätzung die verborgenen Schichten unserer Fragmentierung zu entdecken. Atmend wachsen wir im Vertrauen in das Leben und in die Sicherheit, die Kontrolle über unsere ängstlichen Gedanken gehen lassen zu können.
Geburt ist ein Ausdruck einer gewaltigen sexuellen ekstatischen Lebensenergie. In anderen Kulturen wird sie als heiliger Schöpfungsakt der Großen Göttin, der Spenderin des Lebens gefeiert. Ibu Robin Lim, eine Pionierin der Unterwassergeburt auf Bali, fragt: “Wie würde unsere Welt aussehen, wenn jeder mit uneingeschränkter Fähigkeit zu lieben geboren würde?” Auch wenn wir so weit noch nicht sind - die Integration der verdrängten Geburtsenergien hilft auch den Menschen, die nicht so geboren wurden, diese Fähigkeit wieder in sich zu erwecken.