Demian
"Wir reden zuviel", sagte er mit ungewohntem Ernst. "Das kluge Reden hat gar keinen Wert, gar keinen. Man kommt von sich selber weg. Von sich selber wegkommen ist Sünde. Man muss sich in sich selber völlig verkriechen können wie eine Schildkröte."
Gleich darauf betraten wir den Schulsaal. Die Stunde begann, ich gab mir Mühe aufzumerken, und Demian störte mich darin nicht. Nach einer Weile begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigentümliches zu spüren, eine Leere oder Kühle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz unversehens leer geworden. Als das Gefühl beengend zu werden anfing, drehte ich mich um.
Da sah ich meinen Freund sitzen, aufrecht und in guter Haltung wie sonst. Aber er sah dennoch ganz anders aus, als sonst, und etwas ging von ihm aus, etwas umgab ihn, was ich nicht kannte. Ich glaubte, er habe die Augen geschlossen, sah aber, dass er sie offen hielt. Sie blickten aber nicht, sie waren nicht sehend, sie waren starr und nach innen oder in eine große Ferne gewendet. Vollkommen regungslos saß er da, auch zu atmen schien er nicht, sein Mund war wie aus Holz oder Stein geschnitten. Sein Gesicht war blaß, gleichmäßig bleich wie Stein, und die braunen Haare waren das Lebendigste an ihm. Seine Hände lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wie Gegenstände, wie Steine oder Früchte, bleich und regungslos, doch nicht schlaff, sonder fest, gute Hüllen um ein verborgnes starkes Leben.
Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich, beinahe sagte ich es laut. Aber ich wusste, dass er nicht tot sei. Ich hing mit gebanntem Blick an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte: das war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, einer, der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. Der wirkliche Demian aber sah so aus, so wie dieser, so steinern, uralt, tierhaft, steinhaft, schön und kalt, tot und heimlich voll von unerhörtem Leben. Und um ihn her diese stille Leere, dieser Äther und Sternenraum, dieser einsame Tod!
Jetzt ist der ganz in sich hineingegangen, fühlte ich unter Schauern. Nie war ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht Teil an ihm, er war mir unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der Welt gewesen wäre.
aus Demian von Hermann Hesse